Luc Humbel
Schweiz

Fast doppelt so viele Kirchenaustritte im Aargau: «Kirche muss rasch glaubwürdiger werden»

Die hohen Austrittszahlen aus der katholischen Kirche im Jahr 2023 stehen ganz im Zeichen der Veröffentlichung der letzten September veröffentlichten Missbrauchsstudie. Seither ist es zu einer grossen Austrittswelle im Aargau gekommen: Unterm Strich handelt es sich fast um eine Verdoppelung der Zahl im Vergleich zu den Vorjahren. Und doch gibt es laut Kirchenratspräsident Luc Humbel Hoffnung.

Wolfgang Holz

Die Zahlen lesen sich erschreckend: Im Kanton Aargau gehörten 2023 von den gut 720’000 Einwohnerinnen und Einwohnern (Stand 30. Juni 2023) rund 27,5 Prozent der Römisch-Katholischen Kirche an. Von diesen 197’728 Mitgliedern traten im letzten Jahr 9’075 oder 4,59 Prozent aus der Kirche aus. Dem stehen 161 Wiedereintritte und rund 1’000 Erstkommunionen gegenüber.

«Je städtischer, desto distanzierter»

«Die beinahe Verdopplung der Austrittszahlen, die im Vorjahr noch bei 4’559 Personen lag, ist in erster Linie auf die am 12. September veröffentlichte Missbrauchsstudie zurückzuführen», resümiert Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau. «Je städtischer die Region, desto grösser ist die Distanz zur Seelsorge», analysiert er.

Luc Humbel, Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Landeskirche im Aargau
Luc Humbel, Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Landeskirche im Aargau

So waren insbesondere die Austrittszahlen ab September 2023 massiv höher als in den Vorjähren. «In Kenntnis der hohen Austrittszahlen begrüsst die Katholische Kirche im Aargau die Studie zur Aufarbeitung des Missbrauchs innerhalb der Römisch-Katholischen Kirche in der Schweiz als wichtigen und längst fälligen Schritt in Richtung Transparenz und Verantwortung für die vergangenen Taten», so Humbel. «Man kann die Austrittswelle langfristig nur bremsen, wenn die Kirche rasch glaubwürdiger wird und allen Gläubigen gleiche Rechte und Würde garantiert.»

Darf nicht wieder geschehen

Was geschehen sei, dürfe nicht wieder geschehen und das soll mit den bereits seit 2002 erschienen ersten gültigen Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz zu Prävention und zum Umgang mit Fällen und Meldungen verhindert werden.

Eine Frau und ein Mann sitzen in einer Kirchenbank.
Eine Frau und ein Mann sitzen in einer Kirchenbank.

«Für Mitarbeitende der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau gilt seit 2010 eine vertraglich festgehaltene Anzeigepflicht bei Kenntnisnahme von Fällen gegen die persönliche Integrität. Die unabhängige Meldestelle und der Genugtuungsfonds für Opfer, Schulungen in Nähe- und Distanz sowie Leumundszeugnisse für pastoral-tätige Personen greifen bereits heute», sagt Luc Humbel.

Reformen im Bereich der Gleichberechtigung nötig

Die Aufarbeitung der Vergangenheit und Massnahmen für die Zukunft stellten einen wichtigen Gesinnungswechsel dar und helfen der Römisch-Katholischen Kirche, sich zu verändern. «Weiter ist die Römisch-Katholische Kirche gefordert, ihre Reformbestrebungen auch im Bereich der Gleichberechtigung glaubwürdig umzusetzen», ist Humbel überzeugt.

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Die grosse Zahl der Austritte stellt die Kirchgemeinden und die Landeskirche vor finanzielle Herausforderungen, da sich die Kirche durch Kirchensteuern ihrer Mitglieder finanziert. Die Landeskirche unterstützt mit ihren Mitteln die Kirchgemeinden und Pfarreien vor Ort, aber auch Jugendarbeit, spezialisierte Seelsorge zum Beispiel in den Aargauer Spitälern, Kliniken und Heimen, christliche Bildung und Bekämpfung von Armut über katholische Hilfswerke wie die Caritas Aargau oder Einrichtungen wie die Notschlafstelle Aargau.

«Katholikinnen und Katholiken müssen für sich selber und für die Gesellschaft den Mehrwert erkennen, der Kirche anzugehören.»

Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau

Kirchenratspräsident Luc Humbel: «Katholikinnen und Katholiken müssen für sich selber und für die Gesellschaft den Mehrwert erkennen, der Kirche anzugehören, auch wenn sie nicht mehr regelmässig die Gottesdienste besuchen. Die Kirche bietet für Menschen in allen Lebenslagen Seelsorge und Gemeinschaft. Sie engagiert sich für die Schwachen am Rande der Gesellschaft. Damit erfüllt sie auch heute noch eine unverzichtbare Funktion.»

Weltsynode in Rom im Oktober 2023.
Weltsynode in Rom im Oktober 2023.

Weltsynode als Hoffnung

Eine Hoffnung für die katholische Kirche verkörpere die Weltsynode. «Die Weltsynode im Oktober 2023 in Rom hat sich für mehr regionale Unabhängigkeit in unserer weltumspannenden Kirche ausgesprochen – und das an einer Synode, an der zum ersten Mal auch Frauen gleichberechtigt teilnahmen. Wir sind voller guter Hoffnung, dass sich die Kirche eben doch bewegt. Das sind erste Schritte, um die Glaubwürdigkeit in der heutigen Zeit wiederzugewinnen», blickt Luc Humbel voraus.


Luc Humbel | © Vera Rüttimann
8. März 2024 | 16:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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