Leo Karrer. emeritierter Professor für Pastoraltheologie
Schweiz

Familiensynode – Mut zur Realität und Treue zum Anliegen

Freiburg i.Ü., 18.9.15 (kath.ch) «Bezüglich der herkömmlichen Sexualmoral würde ich der Kirche ein Moratorium empfehlen, nämlich vorerst zu schweigen.» Das schreibt Leo Karrer in seinem Kommentar für kath.ch. Er nimmt Stellung zu den Aussagen von Bischof Jean-Marie Lovey, die im Interview von kath.ch am 16.9.15 veröffentlicht wurden. Karrer ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie.

Leo Karrer

Bei der Bischofssynode in Rom vom 4.–25. Oktober geht es um «Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute». – Intensive und kontroverse Debatten sind vorprogrammiert, genauso wie eine gewaltige mediale Begleitung, die Sorgen und Hoffnungen vieler markieren. Bischof Jean-Marie Lovey nimmt als Delegierter der Schweizer Bischofskonferenz teil. In kath.ch vom 16.9.2015 nimmt er zu Fragen zur Bischofssynode Stellung. Der Grundduktus seiner Aussagen veranlasst Rückfragen in Sorge um das pastorale Anliegen der Bischofssynode. Die Wünsche vieler: stellt euch den Realitäten und gebt Zeichen der Hoffnung.

Glaubwürdigkeit der Kirche steht auf dem Spiel

«Die Synode … soll zuerst der Einheit der Kirche Sorge tragen und sich dann konkreten Fragen zuwenden», sagt Bischof Lovey. Schenkt sich Einheit ohne die Achtsamkeit gegenüber den Details des konkreten Lebens? Geht es um die Repetition traditioneller Aussagen oder stellt man sich der Wirklichkeit? Dort steht die Glaubwürdigkeit der Kirche im Test und auf dem Spiel. Welche Signale gibt die Kirche?

Auf die Frage, was er vor der Abreise zur Bischofssynode über Ehe und Familie empfinde, verweist er nur auf die Begegnung mit anderen Bischöfen; ohne Zweifel eine eindrucksvolle Chance in unserer Kirche, aber kein Hinweis auf die sogenannten «heissen Eisen» der Synode. Auf die Frage nach dem dringendsten Problem, das die Bischöfe bezüglich der Familien anpacken sollen, sagt Bischof Lovey: «Die Familie findet ihre tiefste Verwurzelung und Vollendung im Geheimnis der Dreifaltigkeit. Die Kirche ist der Garant für diese Offenbarung.» Ist das eine Hilfe für Menschen, deren Partnerschaft scheitert? Auf die Frage, ob die Synode konkrete Entscheidungen fälle, wird auf das Hirtenamt der Bischöfe verwiesen und «die Synode hat offen zu sein für die Anregungen des Hl. Geistes. Sie wird ihre Ergebnisse dem Papst übermitteln. Ihm kommt es zu, allfällige Entscheide zu treffen.» Ist damit die Brisanz des Synodenthemas an der Basis zu erfassen? Sind es nur europäische Probleme? Zu den Synodenumfragen: «Ich werde natürlich dieses ganze Gepäck an die Synode mitnehmen.» Aber was ist der Inhalt dieses Gepäcks? In welchem Geist soll man mit dem Gepäck umgehen?

Schon 2014 haben sich über 25’000 Menschen in der Schweiz allein an der Pastoralumfrage zu den Themen der Synode geäussert und ihren Sorgen, Problemen und Erwartungen an die Kirche eine eindrucksvolle Stimme verliehen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen vor allem Fragen der gleichgeschlecht­lichen Partnerschaften und der geschiedenen Wiederverheirateten eine zentrale Rolle. Es geht also nicht um eine simple Anpassung an den Zeitgeist, sondern um Fragen über die Kirchengrenzen hinaus.

Problemlösungen sind gefragt – nicht «ewige» Wahrheiten

Gefragt sind im pastoralen Kontext der Mut zur Wirklichkeit als Ort, wo die Problemlösung zu finden ist, aber auch Mut bzw. Treue zur Vision. Doktrin und Dogma stehen nicht über den Erfahrungen und Realitäten des Lebens. Es erinnert an den alten Streitpunkt während und nach dem Konzil, ob das Dogma höheren Ranges sei als die Pastoral. Rückzug auf weltfremde und auf die Einheit bzw. Statik des kirchlichen Systems wirken leicht lächerlich und machen die tiefen Aussagen, die die Kirche zu Ehe, Partnerschaft und Familie in guten und in bösen Tagen beizutragen hat, unglaubwürdig. Es geht um die Öffnung zu den Realitäten des Lebens mit ihrem Licht und Dunkel. Wer mit den Realitäten und Lebenserfahrungen der Menschen eigenwillig und doktrinär umgeht, sehe zu, dass er nicht auch mit der Gottesfrage und mit den «ewigen» Wahrheiten eigenmächtig und mutwillig umgeht.

Rasch und grundlegend ändern sich die religiösen und ethischen Werte und Grundüberzeugungen und nirgendwo zeigt sich der Wandel deutlicher und tiefgreifender als im Bereich von Partnerschaft, Ehe und Familie. Hier stehen für die meisten Menschen Glück und Lebenssinn unmittelbar an. Hier sind aber auch die meisten Irritationen im Erleben des traditionellen Kirchenchristentums. Dies bestätigten die weltweiten Umfragen zum Thema der Familiensynode 2014 und 2015 in Rom. So hilft keine schiefe Apotheose von Ehe und Familie, aber auch keine imperative und moralisierende Soll-Sprache, die kirchlichen Verlautbarungen oft eigen ist. Wie ist es aber zu verstehen, wenn Ehe als ein Stück realer Geschichte und als Biographie des liebenden Risikos, des vertrauenden Scheiterns und der verwundbaren Erfüllung verstanden werden möchte? Und was möchte die Kirche vertiefen, wenn sie sagt, dass die Ehe ein Sakrament bzw. ein Zeichen der Liebe Gottes zum Menschen ist? Wozu könnte die Synode die Betroffenen inspirieren? Was könnte sie raten? Wozu ermuntern?

Bezüglich der herkömmlichen Sexualmoral würde ich der Kirche ein Moratorium empfehlen, nämlich vorerst zu schweigen. Manche sprechen von einer Krise der Institution Ehe und denken dabei an den Rückgang der Eheschliessungen, an den Anstieg des Heiratsalters und der Ehescheidungen, an die Zunahme rechtlich nicht legalisierter Lebensgemeinschaften und an die noch wachsende Schar der Singles. Der Begriff Ehe ist ins Schwimmen geraten. Durch die Empfängnisverhütung hat sich die Sexualität von den Institutionen Ehe und Familie zunehmend gelöst. Das frühere «Laufgitter der Konventionen» (N. Scholl) ist über weite Strecken infolge des Werte- und Orientierungs­wandels relativiert worden.

Religiöse Kultur des Heiratens

Dies hat Auswirkungen auf die religiöse Kultur des Heiratens und des Ehe- und Familienlebens. Auch die religiöse Bedeutung der Ehe ist für viele Ehewillige viel offener geworden. Sie wollen ihre Partnerschaft auch religiös individuell gestalten. Eine solche Haltung kommt zu ihren Teilen durchaus dem kirchlichen Verständnis von Ehe entgegen, das ja betont, dass die Ehepartner sich selber das Sakrament der Ehe spenden und nicht der assistierende Priester. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Umfrage der GfK-Marktforschung Nürnberg will belegen können, dass für knapp die Hälfte der Deutschen (48,5%) eine kirchliche Trauung zum Heiraten gehört, dass das Ja-Wort vor dem Altar für sie ein bedeutendes Ritual sei. Fast jeder Dritte sage, dass ihm wichtig sei, dass sein Lebenspartner seine Einstellung zum Glauben teile. Natürlich gibt es auch andere Umfragen, die ihre Ergebnisse bestätigt «glauben». Kirche und Seelsorge sind somit gut beraten, nicht die geschichtlich bedingten Normen zu betonen, sondern Wirklichkeit und Vision zu verbinden — im Blick auf die betroffenen Menschen.

Bei diesen und anderen aktuellen heissen Eisen in der Kirche ist zu fragen, ob sich das geschichtlich gewachsene System der patriarchalen Hierarchie nicht zu ernst nimmt, als müsste sie bis ins Detail alles zwischen Mensch und Gott regeln, als hätten Gott und Mensch keine Chance ohne die Kontrolle durch Kirche. Wird Gott nicht zu klein gedacht, wenn man mit Berufung auf ihn z.B. geschiedenen Wiederverheirateten die Kommunion verbietet? Wem vertrauen wir in den erfreulichen und leidvollen Realitäten des Lebens? Die Kirche kann angesichts der Lebensfragen und Probleme der Menschen ein prophetisches Frühwarnsystem sein und ein allerdings renovationsbedürftiger Leuchtturm, der Licht aussendet für die Navigation auf den Meeren des Lebens.

Wenn die Synode den Mut zur Wirklichkeit und den Mut zur Vision von Ehe und Partnerschaft wagt, dann wäre es vielleicht auch eine Option, dass ein nachsynodaler Rat aus Frauen und Männern sich dem Thema um Ehe und Familie weiterhin widmet und die pastorale Wegsuche in die weitere Zukunft begleitet, aber nie abschliesst. Es geht um die Ehe als verletzliches Lebensprojekt im Horizont der Botschaft, dass «sie das Leben in Fülle haben» (Jo 10,10). (lk)

Interview mit Bischof Lovey, Schweizer Delegierter an Familiensynode: Zuerst Einheit, dann Details

Leo Karrer. emeritierter Professor für Pastoraltheologie | © Ludwig Südbeck-Baur
18. September 2015 | 13:03
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