Ali (links) und Amir (rechts) endlich wieder vereint – in der Küche des "Clubhüüs"
Schweiz

Erstfeld statt Moria: Amir aus Afghanistan wohnt jetzt bei Martin Kopp

Sechs Jahre Flucht, sechs Jahre Odyssee: Mit zehn Jahren floh Amir vor den Taliban in Afghanistan. Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos musste der 16-Jährige auf der Strasse schlafen. Seit zehn Tagen lebt der junge Afghane in der Flüchtlings-WG von Martin Kopp.

Alice Küng

«Auf Lesbos musste ich auf der Strasse schlafen», sagt Amir. Der junge Afghane hat markante Gesichtszüge und dunkle Augen. 16 Jahre alt ist er und einer der wenigen minderjährigen Flüchtlinge, die von Lesbos in die Schweiz gelangten.

Seit der Brand-Katastrophe von Moria gilt die griechische Insel als Schandfleck Europas. Flüchtlinge haben ein Lager angezündet, um auf die unmenschlichen Asylbedingungen hinzuweisen. Als Moria in Flammen stand, war Amir bereits in der Schweiz. Aber auch sein Weg glich einer Odyssee.

In der Türkei bestieg der junge Afghan ein Boot, das ihn nach Lesbos brachte. Lange Zeit musste er auf ein Bett im Flüchtlingslager Moria warten. «Ich war allein und fühlte mich einsam», sagt Amir. Die Stimme des hageren Jungen ist klar. Seine Augen blicken traurig.

Harte Arbeit und Taliban

Sechs Jahre lang befand sich Amir auf der Flucht. Statt zur Schule zu gehen, kämpfte er schon als Kind ums Überleben. «In Afghanistan arbeitete ich als Hirte und sammelte Holz zum Heizen», sagt Amir. Diese Arbeit sei sehr hart gewesen.

Nach zwölf getrennten Jahren sind Ali (links) und Amir (rechts) endlich wieder vereint.
Nach zwölf getrennten Jahren sind Ali (links) und Amir (rechts) endlich wieder vereint.

Die Taliban erschwerten sein Leben zusätzlich. Amir beschloss, seine Geschwister und den dementen Vater zu verlassen und über Pakistan in den Iran zu fliehen. Seine Mutter war damals schon gestorben.

Eine hoffnungsvolle Nachricht

Das Leben des Minderjährigen verbesserte sich im Iran nicht. «Vier Jahre lang arbeitete ich als Hilfsarbeiter im Strassenbau», sagt Amir. Auf einmal zeigte sich aber ein Lichtschimmer. Amir erhielt eine Nachricht mit einem Foto.

«Das ist dein Bruder.»

«Ich erkannte die Person nicht und konnte damals noch nicht Farsi lesen», sagt er. Er zeigte die Nachricht einem Freund, der sie für ihn entschlüsselte. «Das ist dein Bruder», sagte er. Über Umwege erfuhr sein sechs Jahre älterer Bruder Ali, dass Amir auf der Flucht war.

«Er hat mir Geld geschickt», sagt Amir. Damit ermöglichte er ihm eine Reise mit Schleppern durch die Türkei. «Vier Monate waren wir unterwegs und mussten immer wieder anhalten», sagt Amir. Das Ziel war klar: die Schweiz.

Martin Kopp hilft

Seit zwei Jahren lebt sein Bruder Ali beim Priester Martin Kopp. Der frühere Generalvikar der Urschweiz leitet eine Wohngemeinschaft für Jugendliche in schwierigen Situationen und Flüchtlinge: das «Clubhüüs» in Erstfeld. In der Flüchtlings-WG will Martin Kopp Nächstenliebe leben. Für Ali und Amir bedeutet das «Clubhüüs» grösstes Glück.

Morteza (rechts) übersetzte für den neu angekommenen Flüchtling aus Afghanistan Amir (Mitte).
Morteza (rechts) übersetzte für den neu angekommenen Flüchtling aus Afghanistan Amir (Mitte).

Mit der Unterstützung von Kopp gelang es Ali, seinen jüngeren Bruder herzuholen. «Die Schweiz erklärte sich bereit, Minderjährige aus Lesbos aufzunehmen, die bereits Verwandte in der Schweiz haben», sagt Martin Kopp.

Von Moria nach Zürich

Die letzten elf Monate seiner Flucht verbrachte der junge Afghane auf der griechischen Insel Lesbos. Nach längerem Bangen nahm Amirs Odyssee endlich ein Ende. «Es war eine grosse Erlösung, als ich das Flüchtlingslager Moria verlassen konnte», sagt der 16-Jährige.

«In der Schweiz begann für mich ein neues Leben.»

Ende Juni wurde er von Lesbos in die Schweiz geflogen. «Hier begann für mich ein neues Leben», sagt Amir. Die ersten Monate war er im Bundesasylzentrum in Zürich untergebracht.

Hier begegneten sich die beiden Brüder nach zwölf getrennten Jahren das erste Mal wieder. «Es war herzzerreissend. Sie blieben einfach innig umarmt auf dem Vorplatz stehen», sagt Kopp. Amir bestätigt: «Ich war so glücklich, meinen Bruder nach all der Zeit zu sehen. Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, dass wir jetzt wieder vereint sind.»

Geborgen im «Clubhüüs»

Seit zehn Tagen lebt Amir gemeinsam mit Ali und sieben weiteren Flüchtlingen im «Clubhüüs». «Hier fühle ich mich sehr geborgen», sagt er. Das ist auch das Ziel von Kopp: «Wir wollen den Jugendlichen eine Familie geben.»

Essen in der Flüchtlings-WG in Erstfeld bei Martin Kopp.
Essen in der Flüchtlings-WG in Erstfeld bei Martin Kopp.

Amir liebt das Leben in der WG und schätzt vor allem auch die Regeln und Strukturen. «Feste Essenszeiten kannte ich nicht. Bisher habe ich oft erst spät am Abend gegessen», sagt Amir. Im «Clubhüüs» können Amir und sein Bruder so lange bleiben, bis sie eine Ausbildung abgeschlossen haben und für sich selbst sorgen können.

Grosse Pläne für die Zukunft

Momentan besucht Amir eine Sprachschule. Auch zu Hause übt er fleissig. Im Badezimmer kleben überall kleine Zettel: «Lichtschalter», «Spüle», «Spiegel». «Er muss jetzt schnell Deutsch lernen», sagt Martin Kopp. Daneben geht Amir seinem Hobby nach: Fitness.

«Ich wünsche mir, dass der Krieg in meinem Heimatland endet.»

Amir hat grosse Pläne für seine Zukunft. «Ich möchte Schauspieler werden und einmal die Hauptrolle in einem Film über mein eigenes Leben spielen», sagt er. Er sagt, er stehe gerne vor der Kamera und möchte seine Erlebnisse erzählen.

Die Geschichte von Amir und Ali klingt nach einem modernen Märchen mit glücklichem Ende. Amir strahlt eine Zuversicht aus, die Mut macht und das, obwohl er viel Schlimmes erlebt hat. Nicht nur seine Augen lassen die traumatischen Erlebnisse vermuten. Auch Amirs Träume erzählen davon: «Ich wünsche mir, dass der Krieg in meinem Heimatland endet und meine ganze Familie wieder zusammenlebt.»


Ali (links) und Amir (rechts) endlich wieder vereint – in der Küche des «Clubhüüs» | © Christian Murer
31. Oktober 2020 | 02:14
Lesezeit: ca. 3 Min.
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