Mussie Zerai, katholischer Priester aus Eritrea
Schweiz

Eritreischer Priester: «Wir beten auch für die, die uns helfen»

Zürich, 29.8.15 (kath.ch) Eritreer sind derzeit die grösste Gruppe Asylsuchender in der Schweiz. Die Mehrheit von ihnen sind Christen. Kath.ch ist der Frage nachgegangen, welche Rolle die Religion in ihrem Leben spielt und wie die Kirche ihnen hilft, mit der Situation als Flüchtling umzugehen.

Sylvia Stam

«Der Mann sah traurig und belastet aus», erzählt Susy Mugnes, Seelsorgerin im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Basel. Die Rede ist von einem Mann aus Eritrea, der vor kurzem in die Schweiz gekommen ist, wo seine Frau bereits war. Er sei in Eritrea im Gefängnis gewesen, erzählt der Mann der Seelsorgerin, und nachdem er entlassen und aus Eritrea geflohen war, sei er gekidnappt worden. Er sei im Sinai gefoltert worden, um Geld von der Familie zu erpressen. Die Brandwunden der Zigaretten hat er der Seelsorgerin gezeigt.

«Wir sind mit einem Boot über Griechenland gekommen», hörte Mugnes von einer eritreischen Mutter zweier Knaben. «Das Boot kippte und alle fielen ins Wasser. Die Rettung, in diesem Fall die Polizei, kam schnell, aber einige haben es nicht geschafft.» Unter den Ertrunkenen sei auch ihre kleine Tochter gewesen.

Es sind solche Geschichten, die eritreische Flüchtlinge mit sich herumtragen. Wie aber gehen die Menschen mit diesen Erlebnissen um?

«Gott ist mit ihnen unterwegs»

«Es braucht viel Zeit, um ihr Vertrauen zu gewinnen», erzählt Mugnes, Gespräche dieser Art kämen nicht sofort zu Stande. Oft gehe es zuerst um ganz elementare Bedürfnisse: Sie brauchen Kleider oder Geld, um ihre Familie anrufen zu können, sie bitten aber auch um eine Bibel oder einen Rosenkranz. «Manchmal ziehen sie sich zurück und beten zusammen, zum Beispiel im Seelsorgezimmer des Empfangszentrums», erzählt Mugnes.

Tatsächlich sei der Glaube für eritreische Menschen sehr wichtig: «Sie erzählen, wie ihr Glaube ihnen geholfen hat, auf dem Meer oder in der Wüste durchzuhalten», berichtet Mugnes. «Viele Eritreer glauben an einen Gott, der mit ihnen unterwegs ist.» Wenn sie es nach Europa geschafft hätten, seien sie Gott oft sehr dankbar dafür, ohne dass sie vergessen würden, was unterwegs alles passiert sei.

Ein Priester für 6500 Gläubige

Laut Angaben des eidgenössischen Amtes für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist die Bevölkerung Eritreas je zur Hälfte muslimischen und christlichen Glaubens, wovon wiederum die meisten zur eritreisch-orthodoxen Kirche (Eritrean Orthodox Tewahedo Church of Eritrea) gehörten. Die eritreische Diaspora in der Schweiz ist mehrheitlich christlich, etwa 10 Prozent sind laut Bundesamt für Migration (BFM) muslimischen Glaubens. Von den eritreischen Christen in der Schweiz seien etwa 90 Prozent orthodox und etwa 5 Prozent römisch-katholisch, schätzt Samuel Behloul, Direktor von Migratio, der Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz für Migration und Menschen unterwegs. Mussie Zerai, der einzige katholische eritreische Priester in der Schweiz, spricht gegenüber kath.ch von 6500 katholischen Gläubigen, die er betreue.

Auch Behloul und Zerai bestätigen, dass die Religion für eritreische Flüchtlinge eine enorm grosse Rolle spielt. «Die meisten meiner Gläubigen sind Flüchtlinge», erzählt Zerai, der von den Eritreern «Abba Mussie» genannt wird. ” Es ist nicht einfach für eritreische Flüchtlinge, nach den schwierigen Erfahrungen von Gewalt in der Schweiz neu zu beginnen», sagt Zerai gegenüber kath.ch, denn sie hätten viel Schmerzhaftes erlebt. «Der Glaube spielt bei der Verarbeitung des Erlebten eine zentrale Rolle: Die Messe hilft ihnen, sich zu Hause zu fühlen. Hier hören sie ihre Sprache. Viele erzählen auch, es sei für sie wichtig, in ihrer Sprache die Beichte ablegen zu können.»

Gebete helfen zu verarbeiten

Zerai hat in der Messe Gebetsformen eingebaut, in denen die Sorgen der Flüchtlinge zur Sprache kommen: «Wir beten für die, die im Meer ertrunken oder in der Wüste umgekommen sind, für die, die im Gefängnis sind, und wir beten auch für die, die uns helfen.»

Hilfe bei der Integration im Ankunftsland ist Zerai ein wichtiges Anliegen. Er macht dies auch schon mal zum Thema einer Predigt: «Ich frage die Gemeinde: Was ist nun eure Aufgabe? Gebt zurück, was ihr bekommen habt, lernt die Sprache, lernt die Gesetze der Schweiz kennen, das ist euer Beitrag für dieses neue Land!»

Er ermuntert die Gläubigen, vor allem die Familien mit Kindern, auch in ihrer Schweizer Pfarrei zur Messe und zum Religionsunterricht zu gehen. Er selbst hält jedes Wochenende vier Messen an verschiedenen Orten, sodass er jedes der 14 Zentren in der ganzen Schweiz einmal pro Monat besuchen kann. Die Liturgie, die nach dem altorientalischen Geez-Ritus abgehalten wird, dauere etwa 90 Minuten. An Sonntagen, wo auch Taufen und Hochzeiten stattfänden, könne sie bis zu drei Stunden dauern. «Manchmal gibt es vier Taufen in einer Messe», sagt Zerai lachend.

Predigt ermuntert zu Integration

Für orientalische Christen sei der Ritus sehr wichtig, erklärt Migratio-Direktor Behloul. Deshalb könnten nur die Priester den Gottesdienst halten, die auch diesen Ritus und seine Abläufe kennen. In Eritrea könnten wegen dem jahrelangen Militärdienst keine Priester ausgebildet werden, weshalb Mussie Zerai, der die Schweizer Gemeinde von Italien aus betreue, sehr viel zu tun habe. An hohen Feiertagen wie Ostern lasse er Aushilfspriester aus Italien kommen.

Die eritreischen Kirchgemeinden unterstützen ihre Mitglieder aber auch bei Problemen des Alltags. Jede Gemeinde hat laut Zerai eine Art Pfarreiteam (»Pastoral Council»), welche das Gemeindeleben organisiert. So fänden nach der Messe Gesprächsrunden oder Informationsveranstaltungen zum Beispiel mit Psychologen statt, die Gläubigen pflegten hier Kontakte zur Schweizer Pfarrei und unterstützten einander bei Fragen rund um die Integration.

«Vor Gott sind wir nie fremd»

Zu den orthodoxen Eritreern gebe es Kontakte, sagt Zerai, jedoch hätten diese eine unabhängige Glaubenspraxis. Laut Behloul sei die Abgrenzung fliessend, Katholiken und Orthodoxe besuchten auch gegenseitig Gottesdienste. Zwar habe es Konflikte gegeben, weil Orthodoxe als regimetreuer gälten als Katholiken. Die meisten verstünden sich aber gut.

Susy Mugnes, die auch in der Kleinbasler Pfarrei St. Clara tätig ist, bestätigt, dass viele Eritreer auch deutschsprachige Gottesdienste besuchten, selbst wenn sie sprachlich wenig verstünden. «Vor Gott sind wir nie fremd, egal wo wir sind», erklärt Mugnes, die zum Säkularinstitut der Scalabrini-Missionarinnen gehört. Viele Eritreer besuchten auch die englischsprachigen Gottesdienste, weil sie diese oft zuerst kennen gelernt hätten und weil hier viele Afrikaner seien. An der jährlichen Wallfahrt der Afrikaner nach Einsiedeln, die am Samstag, 29. August, stattfindet, werden denn auch Mitglieder der eritreischen katholischen Gemeinde dabei sein. (sys)

Separat:

Mussie Zerai

Der 40-Jährige Eritreer kam als Teenager nach Italien. Nach einem Studium in Philosophie und Theologie wurde er zum Priester geweiht. Seit vier Jahren ist er als katholischer Seelsorger für die Eritreer in der Schweiz zuständig. Darüber hinaus engagiert er sich sehr stark für Flüchtlinge. Seine Handynummer ist in Eritrea bekannt, weil er seit vielen Jahren die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen auf dem Mittelmeer koordiniert.

Säkularinstitut der Scalabrini-Missionarinnen:

Zu diesem Institut gehören Frauen, die sich berufen fühlen, Jesus «auf den Wegen des Exodus» nachzufolgen durch die Gelübde der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams. Derzeit zählt das Säkularinstitut etwa 50 Mitglieder in verschiedenen Städten Europas sowie in Brasilien und Mexiko. In Solothurn leben acht, in Basel vier Scalabrini-Missionarinnen.

Mussie Zerai: Der eritreische Priester kämpft für Mittelmeerflüchtlinge

 

 

Mussie Zerai, katholischer Priester aus Eritrea | © Jiri Reiner
29. August 2015 | 08:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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