Desinfektionsmittel vor rotem Vorhang
Schweiz

Ende der Pandemie? Reformierter Pfarrer warnt vor «Öffnungsrausch»

Am 17. Februar könnte der Bundesrat sämtliche Corona-Massnahmen streichen. Der reformierte Pfarrer Michael Wiesmann (40) warnt vor einem «Öffnungsrausch», denn: «Wir müssen an die vulnerablen Menschen denken. Solidarität ist mehr als ein Lippenbekenntnis.»

Raphael Rauch

Schon bald könnten alle Corona-Massnahmen fallen: keine Zertifikatspflicht, keine Maskenpflicht, nichts mehr. Wie geht’s Ihnen damit?

Michael Wiesmann*: Es kommt auf die Lockerungen darauf an. Es kann nicht sein, dass Krebspatienten den ÖV nicht mehr nutzen können, weil niemand mehr Maske trägt. Als Pfarrer habe ich vor allem ältere, vulnerable Menschen im Blick. Wir dürfen sie nicht aus dem gesellschaftlichen Leben ausschliessen.

Pfarrer Michael Wiesmann
Pfarrer Michael Wiesmann

Was könnten Sie sich für Ihre Gemeinde vorstellen?

Wiesmann: Als Seelsorger möchte ich ein Umfeld schaffen, in dem sich die Menschen sicher fühlen – körperlich wie psychisch. Gerade in Gottesdiensten finde ich die Maskenpflicht sinnvoll. Wir können doch nicht von Schwestern und Brüdern im Gottesdienst sprechen – und uns ist es egal, ob wir vulnerable Menschen anstecken, nur damit das Lied etwas besser klingt. Ich hoffe, dass wir Kirchen nicht einem Öffnungsrausch verfallen. Wir haben auch eine Fürsorgepflicht.

«Wir können doch nicht Nächstenliebe predigen, aber nicht bereit sein, die extra Meile zu gehen.»

Gerade an der Basis hört man immer wieder, wie die Zertifikatspflicht die Gläubigen spaltet – etwa bei Abdankungen.

Wiesmann: Ich bin kein Fan der Zertifikatspflicht. Sie suggeriert eine Scheinsicherheit, die es nicht gibt. Wir mussten an der Kirchentür Menschen wegschicken – als Pfarrer tut das richtig weh. Aber ich finde nicht, dass wir von einer Spaltung sprechen sollten. Das ist doch eher eine Meinungsverschiedenheit. Am Ende geht es um die Frage: Wie viel sind wir als Gesellschaft bereit, für die Schwächeren zu tun? Wir können doch nicht Nächstenliebe predigen, aber nicht bereit sein, die extra Meile zu gehen.

Skulptur: Figuren mit Corona-Schutzmaske.
Skulptur: Figuren mit Corona-Schutzmaske.

Der «Öffnungsrausch» dürfte für viele trotzdem faszinierend klingen.

Wiesmann: Wir haben die Illusion einer Normalität, in die wir gerne flüchten wollen. Die Pandemie hat viele Probleme an die Oberfläche gebracht, die wir jetzt gerne schnell wegwischen wollen – obwohl wir genau wissen, dass die Probleme nicht gelöst sind. Alle reden von der psychischen Belastung von Jugendlichen. Aber niemand will sich unabhängig von Corona mit dem Stress an der Schule auseinandersetzen. Alle reden von häuslicher Gewalt. Aber die häusliche Gewalt wird nicht aufhören, wenn das Home Office vorbei ist. Häusliche Gewalt wird es weiterhin geben. Damit sollten wir uns auseinandersetzen.

* Michael Wiesmann (40) ist reformierter Pfarrer in Aarau. Die «NZZ am Sonntag» hat ihn als «einsamen Corona-Prediger» vorgestellt.


Desinfektionsmittel vor rotem Vorhang | © Christian Merz
6. Februar 2022 | 17:56
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