Ephrem Bucher, Kapuziner, Guardian im Kapuzinerkloster Mels SG
Schweiz

«Eine Anzeige gegen Bruder Joël hätte keinen Sinn gemacht»

Mels, 17.2.17 (kath.ch) Der Kapuziner Ephrem Bucher, ehemaliger Provinzial (Vorsteher) der Schweizer Kapuziner, stand diese Woche in der Kritik, die sexuellen Übergriffe seines Mitbruders Joël Allaz vertuscht zu haben. Im Interview mit kath.ch erklärt er, was er damals konkret unternahm und warum er nicht Anzeige erstattete.

Sylvia Stam

Sie sind diese Woche aus dem Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz zurückgetreten. Weshalb?

Ephrem Bucher: Ich war nur drei Monate dabei. Bischof Charles Morerod hat gesagt, sie hätten mich nicht in das Gremium aufgenommen, wenn er gewusst hätte, dass ich damals etwas nicht gemeldet habe. Vor diesem Hintergrund verlasse ich das Gremium lieber.

Von sich aus wären Sie geblieben?

Bucher: Es braucht gewisse Erfahrungen mit solchen Fällen. Die meisten Leute, die im Gremium sind, kommen von aussen. Sie wissen nicht, was man jemandem antut, der missbraucht wird. Ich hatte jahrelang Kontakt mit den Opfern. Ich weiss aber auch, wie es dem geht, der missbraucht. Dass er beispielsweise suizidgefährdet sein kann.

Joël wurde 1989 nach Frankreich versetzt. Der damalige Provinzial lebt nicht mehr. Was wussten Sie denn von dem Fall, als Sie dieses Amt 2001 übernahmen?

Bucher: Ich wusste nur, dass Bruder Joël in Frankreich war, von den Übergriffen wusste ich nichts. 2001 meldete sich Daniel Pittet bei mir. Ich habe ihn daraufhin mehrmals besucht. Wir haben ihm 50’000 Franken bezahlt für ein soziales Werk, mit dem er beginnen wollte. Dann ging ich nach Frankreich und sprach mit Bruder Joël.

Das heisst, aus dem Orden hatten Sie keine Informationen über die Übergriffe?

Bucher: Nein, der Provinzial, der ihn versetzt hatte, ist bei einem Attentat ums Leben gekommen. Dadurch waren viele Informationen weg. Das Bistum war vermutlich besser informiert, aber das wusste ich damals nicht.

Keine seelsorgerlichen Aufgaben ausserhalb des Klosters

Ich weiss nicht, wer die Hauptlast dafür trägt, dass er nach Frankreich kam. Pittet sagte mir, er und seine Familie hätten gewollt, dass er möglichst weit weg komme.

Sie gingen nach Frankreich und sprachen mit Ihrem Mitbruder Joël.

Bucher: Ich habe ihn gestellt und gefragt, was da los sei. Ich wollte wissen, was er arbeitet. Dann habe ich sofort begonnen, gewisse Tätigkeiten zu blockieren: Er durfte keine seelsorgerlichen Tätigkeiten ausserhalb seines Klosters mehr ausüben, ausser bei älteren Leuten. Das war meine erste Reaktion.

Nach weiteren Gesprächen mit Pittet, der immer noch Angst hatte, habe ich veranlasst, dass Bruder Joël überhaupt keine seelsorgerlichen Tätigkeiten mehr ausüben darf.

Was für Tätigkeiten konnte er denn noch verrichten?

Bucher: Tätigkeiten im Kloster, beispielsweise Putzarbeiten. Er war gesundheitlich angeschlagen, konnte schlecht laufen, schlecht sehen, hatte Diabetes. Auch Pittet fand, wir sollten ihn nicht aus dem Orden ausschliessen, weil wir dann keine Kontrolle mehr über ihn gehabt hätten. Daraufhin haben wir ihn im Kloster behalten, was für uns auch eine Belastung war.

Eine Anzeige war kein Thema?

Bucher: Wir haben darüber gesprochen, aber es hätte keinen Sinn gemacht, weil die Taten, von denen man wusste, alle verjährt waren. 2008 kam es zu einer Anklage, bei der man genau dies feststellte. Auch Pittet sagte: Wenn wir ihn jetzt anklagen, dann ist er ein Jahr oder zwei im Gefängnis, dann kommt er raus, und dann? Dann ist niemand mehr da, der zu ihm schaut. Ich weiss nicht, ob Pittet sich daran erinnert, aber wir kamen zum Schluss, es sei besser, ihn im Kloster eingesperrt zu behalten.

Wann geschah denn der letzte, bekannt gewordene Fall?

Bucher: Der letzte Fall war 1992, dafür wurde er verurteilt. Seit der Massnahme, dass er keine seelsorgerlichen Tätigkeiten mehr ausüben darf, gab es nie mehr einen Übergriff.

Haben Sie mit anderen Opfern gesprochen?

Bucher: Ich habe mit einem weiteren Opfer gesprochen. Die Person ist heute Universitätsprofessor. Wir haben ihn einmal an ein Kapitel (Versammlung der Kapuziner) eingeladen, wo er über diese Erfahrungen referiert hat.

Heute würde ich Bruder Joël anzeigen.

Gab es eine offizielle Entschuldigung seitens des Ordens?

Bucher: Ja, 2008 war der Fall ja schon gross in den Medien. Ich habe mich mehrfach entschuldigt. Ich verlangte die Adressen der Opfer, die dem Gericht bekannt waren. Ich hätte ihnen einen persönlichen Brief schreiben wollen. Ich bekam die Adressen jedoch nicht.

Haben Sie den Fall Ihren Vorgesetzten gemeldet?

Bucher: Ich habe den Fall damals der Kapuzinerkurie nach Rom gemeldet, dem Generaloberen der Kapuziner. Ich weiss nicht, ob er dort weiterverfolgt wurde. Heute weiss ich, dass ich den Fall direkt bei der Kongregation für Orden und Säkuarinstitute im Vatikan melden müsste, dann würde es wirken. Aber ich war damals relativ neu im Amt.

Würden Sie heute rückblickend etwas anders machen?

Bucher: Von heute aus gesehen sage ich, es wäre besser gewesen, ich hätte damals Anzeige erstattet. Dann wäre ich heute juristisch entlastet. Aber ob ich moralisch entlastet wäre, bin ich mir nicht so sicher. Ich hatte Angst, Bruder Joël würde Selbstmord begehen. Angenommen, ich hätte ihn angezeigt, aber die Anzeige hätte nichts gebracht, weil die Fälle verjährt sind, und Bruder Joël hätte Selbstmord begangen. Das hätte ich schlecht verdaut.

Und heute?

Bucher: Heute würde ich Bruder Joël anzeigen. Was in vielen Medienberichten untergeht: Bruder Joël stand dreimal vor Gericht. Man verlangt heute von mir, dass ich ihn hätte anzeigen sollen. Natürlich gebe ich das zu. Aber das Bistum hätte ihn genauso anzeigen müssen, er war ja vom Bistum angestellt. Warum hat die Familie keine Anzeige erstattet? Das verstehe ich nicht.

Ephrem Bucher war von 2001 bis 2004 und von 2007 bis 2013 Provinzial der Schweizer Kapuziner. Er leitet heute als Guardian das Kapuzinerkloster Mels SG.

 


 

Ephrem Bucher, Kapuziner, Guardian im Kapuzinerkloster Mels SG | © Rolf Steiner
17. Februar 2017 | 16:41
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Joël Allaz: «Ich war ein Idiot»

Joël Allaz (76) missbrauchte jahrelang Dutzende Kinder. Gegenüber Schweizer Fernsehen SRF (16. Februar) sagte er: «Ich war wie ein Raubtier, das in der Gegend herumschlich, um Tiere zu töten. Mein grosser Fehler war, dass ich nie zu einem Therapeuten gegangen bin. Das hätte mir vielleicht geholfen, mich zurückzuhalten. Ich habe das nicht gemacht, weil ich Angst davor hatte.»

Als er die Buben missbrauchte, sei ihm nicht bewusst gewesen, wie viel Leid er ihnen zufügte. Erst viel später habe er darüber nachgedacht.

«Manchmal schaue ich mich im Spiegel an und sage mir, was für ein Idiot ich war. Welches Leid ich meinen Opfern angetan habe und immer noch tue. Ich habe Mühe, mich selber zu ertragen, und denke auch an Selbstmord.» Allaz lebt heute im Kapuzinerkloster Wil. (sys)