Doris Reisinger in Luzern
Schweiz

Doris Reisinger: «Wir brauchen jetzt eigentlich so was wie Sterbehilfe für die katholische Kirche»

Die Theologin Doris Reisinger kritisiert in der SRF-Sendung «Sternstunde Religion», dass Missbrauchsbetroffene «verarscht» werden. Joseph Ratzinger ging es nur darum, das klerikale System aufrecht zu erhalten. Die Kirche stecke in einer Sackgasse. Was helfen könne, sei eine Selbstentmachtung der Machthaber.

Jacqueline Straub

In der «Sternstunde Religion» spricht die deutsche Philosophin und Theologin Doris Reisinger über die Missbrauchskrise in der Kirche. Zu Beginn wird sie von Moderatorin Oliva Röllin auf ihre Rede bei der Herbert-Haag-Preisverleihung angesprochen. Dort sagte sie, dass sie jegliches Vertrauen und jegliche Erwartungen in die römisch-katholische Kirche verloren habe. Ob dies einem Austritt gleichkomme? «Wenn ich sage, ich habe jegliches Vertrauen in die Kirche verloren, dann meine ich die katholische Kirche in ihrer jetzigen Verfassung.»

Kirchliches System ist missbräuchlich

Es bedeute eine Verfassung, die einer feudalen Ständegesellschaft gleiche, in der es eine Kirchenspitze gebe, die «für sich in Anspruch nimmt, sozusagen exklusiv als Stellvertreter und Repräsentanten Gottes zu wirken», sagt Doris Reisinger. «Und die für sich in Anspruch nehmen, uneingeschränkt über die Gläubigen zu herrschen – und zwar in intime Bereiche hinein.» In einer solchen Ordnung könne es keine Aufklärung von Missbrauch geben, «weil das ganze System missbräuchlich ist».

Seelsorgerliche Macht und Regierungsgewalt trennen

Nichts sei in den letzten Jahrzehnten so vehement verteidigt worden, wie diese feudale Struktur, die von einer Ungleichheit der Menschen ausgehe, sagt Doris Reisinger. In vielen Bereichen seien Änderungen möglich. «Wenn es um Machtverteilung geht, da geht gar nichts.» Doch das sei das Gebot der Stunde: Seelsorgerliche Macht und Regierungsgewalt müssen getrennt werden.

Doris Reisinger-Wagner an der Jahrestagung der bischöflichen Fachgremien "sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld" in Zürich im Jahr 2019.
Doris Reisinger-Wagner an der Jahrestagung der bischöflichen Fachgremien "sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld" in Zürich im Jahr 2019.

«Wenn wir von Machtmissbrauch sprechen, setzt das eigentlich schon etwas voraus, was es in der katholischen Kirche nicht gibt. Nämlich einen Machtbegriff und eine Machtstruktur, in der es normal ist, dass Macht kontrolliert wird, dass Macht geteilt ist, dass wir eine Gewaltenkontrolle haben», sagt Doris Reisinger. Dass die Regierungsgewalt nicht getrennt ist von der seelsorgerlichen Macht führe dazu, dass Priester oder Bischöfe bis in intime Bereiche des Lebens der Gläubigen hineinwirken können. Es sei die «Norm» der katholischen Kirche. Deswegen könne man eigentlich nicht von Missbrauch sprechen. «Das ist das eigentliche Problem. Der Machtmissbrauch ist systemisch in dieser Kirche.»

Entmachtung der Machthaber

Die Kirche stecke in einer Art Sackgasse, weil alle Entscheidungsgewalt in der hierarchischen Spitze zusammenlaufe. Selbst bei einem Konzil oder auf einer Synode sind es schlussendlich die Bischöfe und der Papst, die entscheiden, kritisiert die Theologin. «Die Machthaber müssten ihre eigene Entmachtung beschliessen.» Es wäre ein politisches Schachmatt.

«Wir brauchen jetzt eigentlich so was wie Sterbehilfe für die katholische Kirche», sagt Doris Reisinger. «Wir beobachten sowas wie einen Zusammenbruch, eine langsame Implosion dieser Institution.» Dieser Prozess sei schmerzhaft. «Ich glaube, das ist das, was auf uns zukommt und was es zu begleiten gilt.» Gleichzeitig müssen Menschen, die das als tragisch miterleben, geschützt werden.

Demonstrantin mit Schild: "Keine Vertuschung bei Missbrauchsschuldigen!" am 30. Januar 2020 in Frankfurt.
Demonstrantin mit Schild: "Keine Vertuschung bei Missbrauchsschuldigen!" am 30. Januar 2020 in Frankfurt.

Auf die Frage, ob heute mehr Sensibilität in Bezug auf übergriffiges Verhalten bestehe, antwortet Reisinger deutlich: «Es hat sich nichts wesentlich geändert.» Gleichzeitig gibt sie zu, dass punktuell in einigen Bistümern oder bei Einzelpersonen ein Prozess stattgefunden habe. Dennoch spüre sie, dass «die Haupthaltung ist, es nicht wahrhaben zu wollen, es kleinzureden». Jene, die auf Missbrauch hinweisen, werden als «Nestbeschmutzer» wahrgenommen.

Klassische Non-Apologies

Kommen Missbrauchsfälle schlussendlich doch ans Licht, greifen Bischöfe immer wieder zu Entschuldigungen. «Ganz viele Entschuldigungen sind ja eigentlich klassische Non-Apologies», sagt Doris Reisinger. «Da entschuldigt sich jemand nicht.» So entschuldige sich etwa ein Erzbischof dafür, dass der Eindruck entstanden sei, dass er einen Fehler gemacht haben könnte. «Oder er entschuldigt sich dafür, dass Betroffene so sehr gelitten haben.» Mit ihm selbst habe das aber nichts zu tun. «Da fühlt man sich als Betroffener verarscht», sagt die Theologin. Auch Joseph Ratzinger entschuldigte sich nicht. «Er glaubt eigentlich auch nicht, dass er wirklich etwas falsch gemacht hat.»

Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.
Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.

Bevor Joseph Ratzinger Papst wurde, war er fast 25 Jahre Präfekt der Glaubenskongregation. «Und in dieser ganzen Zeit, wo er diese obersten Ämter innehatte, ist die Missbrauchskrise so richtig explodiert. Das ist bei uns spät angekommen in Europa, aber in der englischsprachigen Welt ist das in den 80er Jahren schon so richtig explodiert.» Mit der Berichterstattung der Boston Globe im Jahr 2002 kam dann eine Vielzahl an Missbrauchsfällen in Amerika ans Licht.

Vermehrung und Erhaltung der Kleriker

«Und kurz danach ist er Papst geworden und er hat jahrelang nicht mal das Wort Kindesmissbrauch in den Mund genommen.» Er hatte dutzende Fälle von Kindesmissbrauch auf dem Tisch, sagt Doris Reisinger. Gemacht habe er kaum etwas. Und dies vor allem deshalb, weil er der Kirche jeglichen Skandal habe ersparen wollen. «Es ist ein klerikales System, in dem es um den Klerus geht. Das heisst, um die Vermehrung und Erhaltung der Kleriker», sagt Doris Reisinger. Jeder Kleriker weniger sei ein Verlust. Das müsse um jeden Preis vermieden werden. «Die übrigen Menschen spielen einfach keine Rolle. Und das hat sich bis heute nicht wirklich geändert.»

Beschäftigung mit Missbrauch ist belastend

Es sei eine Illusion zu glauben, dass durch Briefe an den Papst, Gespräche mit den Bischöfen oder neue Präventionsmassnahmen, Missbrauch vollkommen aufgedeckt und weitere Taten verhindert werden. «Diese Illusion habe ich nicht mehr», sagt Doris Reisinger.

Sie kritisiert auch, dass zu vielen Themenbereichen rund um Missbrauch noch kaum jemand irgendetwas gesagt habe. «Und ich habe das Gefühl, ich muss das machen. Und ich hoffe immer, dass andere Menschen nachkommen und ich irgendwann wieder einfach nur zu schönen philosophischen Themen arbeiten kann – ohne ständig mit Missbrauch beschäftigt zu sein. Denn das ist sehr belastend», sagt die Philosophin.


Doris Reisinger in Luzern | © Vera Rüttimann
20. März 2022 | 15:14
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