Die zwei Blutsschwestern von Müstair
Eine junge Frau will Nonne werden – muss aber zurück nach Hause, um auf dem Bauernhof auszuhelfen. Davon handelt der Film «Foudre». Und auch das Leben der Benediktinerinnen Johanna und Aloisia Steiner. Die beiden leben im Kloster St. Johann in Müstair – und sind leibliche Schwestern.
Sarah Stutte
Der Benediktiner-Orden ist für seine Gastfreundschaft bekannt. Sehr gastfreundlich sind auch die Benediktinerinnen von Müstair. Als der Bundesrat am Mittwoch zu Besuch kam, schenkte Schwester Johanna Steiner (72) persönlich den Znüni-Kaffee und den Znüni-Tee ein.
Von Südtirol nach Müstair
Schwester Johanna wurde als zweitältestes von insgesamt fünf Kindern in eine Kleinbauernfamilie geboren – und zwar in Taufers. Das liegt im Münstertal in Südtirol und ist das erste Dorf nach der Grenze. «Wir lebten von der Landwirtschaft, waren Selbstversorger», erzählt Schwester Johanna.
«Die drei Jungen haben einen Beruf erlernt, wir beiden Mädchen hatten keine Ausbildung. Ich habe als Jugendliche in einigen Betrieben im Service, als Zimmermädchen und im Haushalt gearbeitet, bis ich mit 25 Jahren ins Kloster eingetreten bin», sagt die Benediktinerin.
«Gott hat mich berufen»
Die Ordensschwester mit den warmen Augen erzählt leise, aber dafür viel und immer mit einem sanften Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielt. Warum sie denn damals ins Kloster eintrat? «Das war ein Gefühl, das mit den Jahren gewachsen ist. Ich habe einfach gespürt, dass Gott mich für ein Klosterleben berufen hat», sagt die zierliche Nonne.
Der Glaube, erzählt sie weiter, hätte in ihrer Familie stets eine wichtige Rolle gespielt. «Unsere Eltern waren praktizierende Katholiken. Wir Kinder gingen jeden Tag in die Schulmesse und besuchten den Religionsunterricht. Die Religion gehörte zu unserem Leben, wie die Arbeit auf dem Feld oder die Hausarbeit.»
Priorin in der Familie
Auf die Frage, ob noch jemand aus ihrer Familie später den zentralen Lebensmittelpunkt auf den Glauben ausgerichtet habe, folgt Überraschendes: «Ja, meine Schwester ist auch ins Kloster St. Johann eingetreten, sechs Jahre nach mir.» Damit ist Aloisia Steiner gemeint, die aktuelle Priorin von Müstair.
Das sei schon etwas Besonderes, mit der eigenen Schwester im selben Kloster zu leben. Vor allem, weil Nonnen sonst ihre Familien nicht mehr so oft sehen, wenn sie sich für diesen Weg entscheiden. «Von den Eltern und Geschwistern getrennt zu sein, hat mir anfangs sehr zugesetzt. Ich hatte Gewissensbisse, weil ich weggehe. Ich machte mir Sorgen, was mit meinen Eltern passiert, wenn sie alt werden», erzählt Schwester Johanna.
Die Bibel hat geholfen
Ein Gedanke aus der Heiligen Schrift habe ihr aber geholfen: «Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.». Für Schwester Johanna wurde klar: «Ich darf schon gehen. Der liebe Gott sorgt sicher für meine Eltern. Das war dann auch tatsächlich so, weil mein jüngster Bruder mit seiner Frau meine Mutter später daheim betreut hat.»
Und wie fiel die Wahl der beiden Schwestern auf das Kloster in Müstair? «Im Winter ruhte die Landwirtschaft. Mein Vater arbeitete deshalb zwei Winter lang hier im Kloster im Stall mit. Die damalige Priorin wusste, dass mein Vater zwei Töchter hatte und fragte ihn, ob eine davon vorübergehend als Haushälterin aushelfen könne. Meine Schwester bot sich dafür an und lernte das Kloster dadurch kennen», berichtet Schwester Johanna.
Die Berufung musste warten
Als Schwester Aloisia dann wieder auf dem Hof gewesen sei, hätte sie eines Tages die ganze Familie zusammengerufen. «Sie teilte uns mit, dass sie gerne ins Kloster eintreten möchte. Meine Mutter war erst skeptisch, weil sie meinte, Aloisia sei noch viel zu jung. Damals haben die Kinder den Eltern nicht widersprochen, weshalb sie also erstmal noch zugewartet hat», sagt die Nonne aus Südtirol.
Zudem hätte sich ihre Schwester verpflichtet gefühlt, auf dem Hof zu helfen und die landwirtschaftlichen Maschinen zu bedienen, weil «der Vater technisch nicht so versiert war». Die heutige Priorin besuchte also die Fahrschule. Dann verunglückte der älteste Bruder der beiden Nonnen mit 19 Jahren tödlich – und Schwester Aloisias Traum von einem gottgeweihten Leben rückte in die Ferne. «Die anderen Brüder waren noch nicht alt genug, um den Hof zu übernehmen.»
Fast wie im Film
In der Zwischenzeit sei aber auch bei Schwester Johanna die Berufung gewachsen. «Also entschieden wir zusammen, ich solle zuerst ins Kloster gehen», erzählt die von ihren Erinnerungen sichtlich bewegte Ordensschwester. «Sie hatte diese Entscheidung doch eigentlich vor mir getroffen. Sie war so tapfer, hat so lange gewartet und ihre Berufung für sich behalten.»
Das klingt wie die Handlung des Schweizer Films «Foudre», der jüngst am «Zurich Film Festival» mit dem ökumenischen Preis der Zürcher Kirchen ausgezeichnet wurde. Darin muss eine Novizin kurz vor ihrem Eintritt ins Kloster auf den elterlichen Hof ins Unterwallis zurückkehren, weil ihre Schwester verstarb. Schwester Johanna ist erstaunt: «Das ist ja unsere Geschichte», bemerkt sie.
Herz und Sein gehört Jesus
Als die Priorin dann schlussendlich auch in Müstair war, hätten sich die beiden Schwestern wieder neu annähern müssen. «Wir hatten uns in den sechs Jahren der Trennung ein wenig auseinandergelebt. Unser Herz und ganzes Sein gehört im Grunde ausschliesslich Jesus. Die Familie habe ich nur zu den hohen Festtagen gesehen», berichtet Schwester Johanna.
Auch ihr eigener Start ins Klosterleben sei nicht so einfach für sie gewesen. «Ich bin niemand, der einfach Kontakt herstellt.» Aber Schwester Domenica Dethomas – eine Benediktinerin, die aus Müstair stammt – habe ihr geholfen, sich einzuleben. Schliesslich spricht Schwester Domenica (78) auch Tirolerisch.
Abschied von der Natur
«Das hat mir ein Gefühl von Heimat gegeben», sagt die Nonne. Dann erzählt sie von ihrem letzten Sommer, den sie vor ihrem Klostereintritt auf dem Hof in Taufers verbrachte. «Damals habe ich von jeder Wiese und jedem Acker unseres Landes, das wir bewirtschaftet haben, Abschied genommen. Damit ich mit der Natur dort verbunden bleibe.»
Schwester Johanna ist nun schon seit über 30 Jahren für die Pflege der kranken Mitschwestern verantwortlich. «Eine strenge, aber schöne Arbeit», sagt sie. Zuvor habe die Schwester überall ein bisschen mitgearbeitet: in der Küche, auf dem Feld beim Heuen und in der Kartoffelernte, später in der Nähstube. Sie sei auch schon viele Jahre in der Klausur als Sakristanin tätig.
Kloster ohne Nachwuchs
Wie alle Klöster in der Schweiz sind auch die Benediktinerinnen in Müstair überaltert. «Die Umstände zeigen uns den Weg und wir müssen uns ihnen anpassen. Schlussendlich sind wir in Gottes Hand. Wir haben uns erstmal zum Bleiben entschieden», sagt Schwester Johanna. «Es wäre schön, wenn im Kloster von St. Johann auch weiterhin das Gotteslob der Benediktinerinnen erschallen würde.»
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