Sr. Lorena Jenal mit einer Frau, die als vermeintliche Hexe gefoltert wurde.
Schweiz

«Die Situation der Hexenverfolgung hat sich enorm verschärft»

Seit bald 40 Jahren wirkt die Baldegger Schwester Lorena Jenal im «Nembi Plateau» des Hochlandes der Pazifikinsel Papua-Neuguinea. Seit etwa sechs Jahren engagiert sie sich auch für die Opfer der zunehmenden «Hexenverfolgungen» und wirkt als Friedensschlichterin bei Stammesfehden. Dafür erhält Lorena Jenal am 10. Dezember von der Stadt Weimar den Menschenrechtspreis.

Beat Baumgartner

Sie erhalten am 10. Dezember den Menschenrechtspreis für Ihr Engagement für Opfer von Hexenverfolgungen. Wie sieht die Situation auf Papua-Neuguinea aus?

Lorena Jenal: Die ganze Hexenverfolgung hat mit einem Wahn zu tun. Es geht immer darum, einen Sündenbock zu finden. Ich illustriere das mit einem Beispiel vom vergangenen 28. Juni: Einer unserer Missionsschüler, der 13-jährige Aleidscha, war verschwunden. Jetzt ging die Gemeinschaft auf die Mutter los und warf ihr vor, das eigene Kind getötet zu haben. Sie sei eine Hexe.

Man begann, sie zu drangsalieren, man wollte sie verbrennen und sie wurde schon gefoltert, da schrie sie in ihrer Verzweiflung: «Nein, ich war es nicht, es war meine Tante.» Da holte man die Tante, die ebenfalls im Dorf lebte, und man folterte sie von zwei bis drei Uhr nachts. Wir fanden zuerst die Mutter, sie war nicht so übel zugerichtet, aber die Tante war in erbärmlichem Zustand. Ich liess sie ins Hauptspital bringen und die Mutter kam zu uns eine Woche auf die Missionsstation.

Gibt es ein Muster, nach dem solche Hexenverfolgungen ablaufen?

Jenal: Ja, es hat immer mit einer grossen wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Not zu tun, für die man ein Opfer sucht. Der betroffene Vater war in grosser Not. Als guter Angestellter  verlor er plötzlich seinen Job und hatte nicht mehr genug Geld für seine Familie.

Und dann sucht man einen Schuldigen…  

Jenal: Ja, ein böser Geist ergreift Besitz von der Frau und diesen kann man nur durch Feuer austreiben. Die reinigende Kraft des Feuers ist in diesem archaischen Denken enorm wichtig.  Darum die Folterungen und Tötungen von Hexen durch Verbrennungen.

«Die Kraft des Feuers ist in diesem Denken enorm wichtig.»

Dabei kommt offenbar in den letzten sechs Jahren eine neue Dimension durch die Anwendung sexueller Gewalt hinzu.

Jenal: Das ist eine ganz neue Entwicklung und hat vor allem mit der allgegenwärtigen Pornographie zu tun. Denn die digitale Welt hat auch auf Papua-Neuguinea Einzug gehalten. Ein Smartphone hat dort heute jeder, auch wenn er sonst nichts besitzt.

So kommt es, dass die als Hexen verfolgten Frauen heute auch sexuell erniedrigt werden. Sie werden nackt ausgezogen und an den Händen aufgehängt, es werden ihnen die Brüste verbrannt und so weiter.

Was passiert mit solchen «verfolgten Hexen» nach ihrer Rettung?

Jenal: Ich nenne das Beispiel von Margret. Sie wurde für den Tod einer anderen Frau verantwortlich gemacht, vor einer tobenden Menge nackt ausgezogen und gefoltert mit glühendem Metall. Sie sagte mir nach ihrer Rettung: «Ich gehe nie mehr in das Dorf zurück, weil sie mich nackt ausgezogen haben.»

«Nacktheit ist die grösste Art von Entwürdigung.»

Das ist für diese Frauen die grösste Art von Entwürdigung, sie fühlten sich schutzlos und total ausgeliefert.

Vor kurzem wurden Sie selbst bedroht.

Jenal: Ja, letztes Jahr, von einem hochrangigen Polizisten. Und am 10. November dieses Jahres, vier Tage vor meinem Flug in den Heimaturlaub, wollte mich ein Dorfbewohner mit einer Pistole töten, nachdem es einen Tag zuvor zu einer versuchten Hexenverbrennung gekommen war.

Eskaliert die Situation generell in letzter Zeit?

Jenal: Sie hat sich enorm verschärft. Man muss sich vorstellen, seitdem ich im November 2017 im Heimaturlaub war, haben sich in der Diözese Mendi 17 Fälle von Hexenverfolgungen ereignet. Seitdem habe ich schon 44 Fälle von Hexenverfolgungen und -verbrennungen erlebt. Diese Opfer betreue und begleite ich immer noch.

«Unser Team konnte sechs Frauen in Sicherheit bringen.»

Und ausserhalb dieser 44 Fälle konnte unser gut ausgebildetes Team in den letzten drei Monaten sechs Frauen in Sicherheit bringen, bevor ihnen was passierte. Sonst wären es 50 Fälle von Hexenverfolgungen.

Sie haben 1973 bei den Baldegger Schwestern die erste Profess gemacht, wurden dann als Erzieherin ausgebildet und sind 1979 nach Papua-Neuguinea im Pazifik ausgereist. Und dort geblieben bis heute…

Jenal: Ja, bereits nach zwei Jahren auf Papua-Neuguinea wusste ich: Das ist die Aufgabe meines Lebens. Meine Haupttätigkeit in der Diözese Mendi, die die südliche Hochlandprovinz und die Provinz Hela umfasst, ist bis heute die Arbeit mit Familien, mit Schwerpunkt auf Mutter und Kind.

Das Land mit seinen zahlreichen Volksgruppen litt und leidet bis heute unter gewalttätigen, verfeindeten Sippen, Mütter und Kinder sind davon besonders betroffen.

Wie viele schwere Stammeskonflikte haben Sie in den letzten vierzig Jahren erlebt?

Jenal: Insgesamt vier Konflikte, die zunehmend brutaler ausgetragen wurden. Dabei geht es meistens um Landstreitigkeiten, um politische Macht und Reichtum. Sehr wichtig sind auch die Kämpfe um Frauen: Um die Frage, wer eine Frau heiraten darf.

«In Konflikten wird die modernste Kompasswaffe eingesetzt.»

Am Anfang kämpften sie mit Pfeil und Bogen, beim zweiten Konflikt kamen selber gebastelte Gewehre zum Einsatz, später dann moderne Waffen wie das Maschinengewehr M16, bekannt als Polizeiwaffe. Jetzt wird in Konflikten die modernste Kompasswaffe eingesetzt.

Werden Sie auch weiterhin auf Papua-Neuguinea tätig sein?

Jenal: Selbstverständlich, ich denke nicht im Traum daran, in die Schweiz zurückzukehren! (lacht) Ich habe vor allem noch das wichtige Projekt eines Hauses für Frauen vor mir, ich nenne es bewusst nicht «Zufluchtshaus» sondern «Haus der Freiheit».

Es ist für mich eine grosse Befriedigung, wenn Frauen zu mir kommen und sagen: «Wegen dir kann ich wieder leben, aufatmen.» Und das ist eine Aufgabe für mich und unsere Gemeinschaft auch in Zukunft.

Weitere Informationen finden sich auf www.sr-lorena.ch sowie www.missio-hilft.de/hexen


Sr. Lorena Jenal mit einer Frau, die als vermeintliche Hexe gefoltert wurde. | © Bettina Flitner/Missio Aachen
2. Dezember 2018 | 14:06
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