Thomas Wallimann-Sasaki
Schweiz

Thomas Wallimann: «Mit Beten allein verändere ich keine Wirtschaftsordnung»

Konzernverantwortung, Kinderarbeit, Lohndumping: Kennen Unternehmen im globalen Süden ethische Grenzen? Und inwiefern steht die katholische Kirche hier in der Pflicht? Was soll sie in Sachen Wirtschaftsethik leisten? Der Theologe und Sozialethiker Thomas Wallimann sieht hier ganz klar noch Potenzial.

Sarah Stutte

Gibt es so etwas wie Ethik in der Wirtschaft überhaupt? Wie zeigt sich diese?

Thomas Wallimann*: In jeder Wirtschaft gibt es eine Form von Richtig und Falsch. Sei es, indem man etwas erreichen will, dass man als gut betrachtet oder indem man den Umgang mit natürlichen Ressourcen so gestaltet, dass man sie als gut empfindet.

Zoumana Silue in seinem Café. Mithilfe einer Solaranlage hat er jetzt durchgehend Licht.
Zoumana Silue in seinem Café. Mithilfe einer Solaranlage hat er jetzt durchgehend Licht.

Man könnte es auch so sagen: In jeder Wirtschaft steckt Moral, die Ethik ist eine Reflexion über diese moralischen Grundsätze. Es gibt Unternehmen, die sich dessen bewusster sind als andere. Die Frage ist immer: Warum macht ein Unternehmen, was es macht? Was ist daran wichtig?

Liegt die Antwort nicht auf der Hand? Der Profit?

Wallimann: Es ist nicht nur der Gewinn. Die Ökonomie ist historisch gesehen immer ein Teil der Philosophie gewesen – bis zur Wende durch die Moderne. Frühere Ökonomen wie Adam Smith haben immer darauf hingewiesen, dass das Verständnis von Wirtschaft, also wie ich mit der Welt um mich herum umgehe, auch eine ethische Sichtweise beinhaltet.

Die Realität zeigt aber immer noch, dass Unternehmen in Drittweltländern so gut wie keine Verantwortung übernehmen: Lohndumping, Kinderarbeit, Giftmüll-Entsorgung. Was kann die Ethik hier ausrichten?

Wallimann: Die Ethik, die hinter dem modernen Wirtschaftssystem steht, hat sehr viel mit dem Spiel Monopoly zu tun. Das heisst – Jeder ist sich selbst der Nächste. Selbstverantwortung wird dem Wettbewerb untergeordnet, und Ungleichheiten in der Welt werden als naturgegeben angeschaut. Häufig führt dies zu einer Form des Fatalismus: Entweder du schwimmst auf der Welle mit oder du gehst unter. Jene, die Kapitalismus und Wirtschaft so verstehen, wollte die Konzernverantwortungsinitiative stärker kontrollieren, weil sie Verantwortung nicht am Wettbewerb und Gewinn, sondern am Gemeinwohl ausrichtet.

«Nicht alle Menschen haben dieselben Voraussetzungen.»

Dann werden Lebensumstände berücksichtigt, wie auch der Umstand, dass der nachhaltige Umgang mit Ressourcen eigentlich das beste Resultat bringt. Aus der katholischen Soziallehre wissen wir, dass nicht alle Menschen dieselben Voraussetzungen haben. Es gibt Arme und es gibt Reiche. Wir müssen darum immer auch fragen, warum das so ist. Das Erkennen struktureller Ursachen wie auch die Sorge für die Menschen verpflichten uns zu einer Solidarität, die sich vorrangig für die Benachteiligten einsetzt.

Ursprünglich hatte Monopoly, nach der Idee der Schöpferin Elizabeth Magie Philips, sogar eine antikapitalistische Ausrichtung.

Wallimann: Genau. Doch man luchste ihr das Patent für das Spiel ab. Philips wollte eigentlich aufzeigen, dass Monopole ins Desaster führen. Nicht der maximale Gewinn sollte Ziel des Spiels sein, sondern das Gemeinwohl.

So sehen es doch auch die Kirchen.

Wallimann: Richtig. Die katholische Soziallehre besagt, dass die Wirtschaft dem Wohl aller dienen muss. Der Wohlstand eines Landes soll darum – wie in der Präambel der Bundesverfassung – am Wohl jener gemessen werden, denen es am schlechtesten geht. Das ist nicht dasselbe wie das Durchschnittseinkommen. Dieses steigt ja selbst dann, wenn alle ein bisschen weniger haben, aber die obersten Einkommen tüchtig mehr zulegen. Die Frage ist also eher: Wie viel Ungleichheit ist zumutbar, damit die Unterschiede nicht zu gross werden? Hier helfen die Grundsätze der katholischen Soziallehre, da sie nicht schwarzweiss denkt, sondern immer wieder nach den Massstäben fragt, die zum Gemeinwohl führen.

Eine elektrisch betriebene Mühle - machbar durch Mini-Grids in Westafrika.
Eine elektrisch betriebene Mühle - machbar durch Mini-Grids in Westafrika.

Darum darf der Massstab nicht sein, was du hast, sondern dass du als Mensch respektiert wirst. Gewinne, Nutzen aber auch Belastungen müssen zumutbar verteilt sein. Stärkere oder Privilegierte tragen oft mehr Verantwortung. Einem schweizweiten grossen Konzern wie der Migros oder Coop kann ich etwas anderes zumuten als dem kleinen Dorfladen um die Ecke. Interessanterweise zeigte die katholische Soziallehre trotz ihrer Kapitalismuskritik immer auch grosses Verständnis für die Arbeitgeber. Sie weiss, dass es für eine funktionierende Wirtschaft auch Unternehmen geben muss, die Risiken eingehen. Aber es braucht genauso Prinzipien, die regulierend wirken.

Was tragen die Kirchen dabei für eine Verantwortung?

Wallimann: Kirchen sind primär Sinninstitutionen. Die Wirtschaft kann nicht aus sich selbst heraus Sinn stiften. Religiöse Gemeinschaften und Kirchen haben deshalb nicht nur auf die gesellschaftliche Bedeutung, sondern auch auf den Sinn von Arbeit hingewiesen. Auch darum sind vor über 100 Jahren die katholischen Pfarrer der Stadt Zürich am Generalstreik auf die Strasse gegangen. Sie forderten – zusammen mit über 250’000 Arbeiterinnen und Arbeitern – beispielsweise die 48-Stunden-Woche und eine Altersvorsorge.

«Die Kirche muss aufpassen, dass sie sich vor lauter Betroffenheit nicht selbst lähmt.»

Natürlich war da bei den Kirchen auch Eigennutz dabei. Denn sie liefen damals Gefahr, viele ihrer Mitglieder an die Arbeiterbewegung zu verlieren, aber gleichzeitig engagierten sich auch viele Kirchenleute und Priester für diejenigen, die in der damaligen industriellen Welt unter die Räder kamen. Aus diesem Engagement – vor Ort und strukturell – sind wichtige Grundsätze für eine humane Arbeitswelt hervorgegangen, die bis heute Gültigkeit haben.

Teilnehmende der Katholischen Arbeiterbewegung mit Friedenfahne
Teilnehmende der Katholischen Arbeiterbewegung mit Friedenfahne

Die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO sind wesentlich inspiriert vom Gedankengut aus der katholischen Soziallehre. Auch der Christlichnationale Gewerkschaftsbund der Schweiz (CNG), die heutige Travail.Suisse und die christlichen Gewerkschaften sowie die Katholische Arbeiterbewegung haben hier ihren Ursprung.

Der Mitgliederschwund der katholischen Kirche ist auch heute wieder ein akutes Problem. Muss sich die Kirche jetzt nicht vor allem finanziell selbst über Wasser halten?

Wallimann: Geld ist gewiss wichtig. Die Kernfrage ist, wie sich die Kirche in der Gesellschaft und auch in der Arbeitswelt versteht. Betont sie letzteres, kann sie ihre Gelder entsprechend einsetzen. Im Moment muss die Kirche aufpassen, dass sie sich vor lauter Betroffenheit über ihre Situation in der Welt nicht selbst lähmt. Die Frage, wie viele Menschen am Sonntag in die Kirche kommen, ist gesellschaftlich gesehen eher irrelevant.

«Fast alle Arbeitsstellen zu Kirche und Wirtschaft sind verschwunden.»

Die Kirche muss sich viel mehr der sozialpolitischen Bedeutung ihrer christlichen Botschaft bewusst sein und sich für die Benachteiligten einsetzen. Es ist der diakonische Auftrag der Kirche, der in der Welt wahrgenommen wird. Meiner Meinung nach ist es vor diesem Hintergrund zu bedauern, dass in der Schweiz fast alle Arbeitsstellen zu Kirche und Wirtschaft verschwunden sind. Denn mit Beten allein verändere ich keine Wirtschaftsordnung.

Viele Kirchgemeinden fördern einzelne Hilfsprojekte, die sich für eine nachhaltige Wirtschaft einsetzen. Könnten die Kirchen nicht auch eigene Projekte aufziehen?

Wallimann: Ja, es braucht in dieser Thematik Spieler auf verschiedenen Spielfeldern. Sicher die Pfarreien, denn sie können vor Ort relativ flexibel und schnell funktionieren. Auch gibt es engagierte Gruppen von Kirchenmitgliedern, aber zudem braucht es Stimmen, die wirtschaftliche und wirtschaftsethische Fragen auf politischer und gesamtgesellschaftlicher Ebene ansprechen.

Kampagne für die Konzernverantwortungsinitiative
Kampagne für die Konzernverantwortungsinitiative

Der Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe wird oft mit Gutmenschentum in Verbindung gebracht, das nicht immer hilfreich ist, weil das System sich in den jeweiligen Ländern nicht ändern lässt.

Wallimann: Hilfe zur Selbsthilfe setzt voraus, dass ich zuerst zuhöre und schaue, was die Menschen vor Ort machen möchten und wo sie Hilfe benötigen. Ich mache mein Gegenüber zu einem Partner auf Augenhöhe. Wenn jemand Hilfe braucht, dann helfe ich. Das ist der Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips.

Früher waren kirchliche Projekte im globalen Süden oft mit einem missionarischen Ansatz verbunden. Lässt das heute immer noch zurückschrecken oder konnte die katholische Kirche hier inzwischen Boden gutmachen?

Wallimann: Theologie wie Praxis haben sich geändert. Damals galt – Wer nicht getauft ist, kommt nicht in den Himmel. Heute gehen wir von einem anderen Verständnis aus. Der Glaube lässt sich nicht einfach an Taufzahlen messen. Wir müssen uns viel mehr fragen, warum wir tun, was wir tun – und jenen, die uns fragen, eine glaubwürdige Antwort geben können. Diese kann dann durchaus mit dem christlichen Glauben zu tun haben.

«Die Kirche hat definitiv etwas zu bieten in diesem Dialog.»

Was für die Arbeit in den benachteiligten Gebieten dieser Welt gilt, zählt auch für das Kirche-sein in unserer Gesellschaft. Positionen und Stellungnahmen der Kirchen – Bischöfe, Seelsorgerinnen, Christinnen und Christen – werden nicht immer geliebt. Können wir jedoch sagen, warum wir uns zu Wort melden, dann haben die Kirche und ihre Menschen definitiv etwas zu bieten in diesem Dialog.

*Thomas Wallimann ist Theologe und Sozialethiker. Er leitet das Institut ethik22 und ist freier Mitarbeiter an der Universität Luzern.

Anzeige ↓ Anzeige ↑

Thomas Wallimann-Sasaki | © zVg
17. März 2024 | 15:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!