Die Bibel nennt viele Formen von Geschlechter-Identitäten

Häufig wird die Bibel herangezogen, um gegen Homosexualität oder für die Ehe ausschliesslich zwischen Mann und Frau zu argumentieren. Doch ist sie so eindeutig, wie manche behaupten? Längst nicht, sagen einige Theologen.

Karin Wollschläger

«Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.» So heisst es in einer der beiden biblischen Schöpfungsgeschichten. Es steht aber nicht da, dass Gott den Menschen männlich «oder» weiblich schuf.

Manche lesen den Vers aus der Genesis auch als Zuspruch Gottes an Menschen, die in ihrem Geschlecht uneindeutig sind oder sein wollen oder deren Geschlechtsempfinden von ihrem biologischen Geschlecht abweicht.

«Fluides Geschlecht steht für dynamischen Wechsel.»

Fluides Geschlecht ist dafür der Fachbegriff und steht für den dynamischen Wechsel von männlichen, weiblichen und geschlechtsneutralen Empfindungen. Anders als bei Transgender-Menschen wird keine definitive Verwandlung zum anderen Geschlecht angestrebt.

Von diesem Spezialfall abgesehen, sind generell traditionelle Geschlechterrollen und Beziehungsmodelle sehr ins «Fliessen» gekommen. Das stellt auch die Kirchen vor einige Herausforderungen.

Die Freude am Verbot

Dabei fällt auf, dass häufig Bibelstellen vorgebracht werden, um etwa ein Verbot der Homosexualität oder die Ausschliesslichkeit der Ehe zwischen Frau und Mann zu begründen.

Diesen bisweilen sehr emotional geführten Debatten widmeten sich die Theologischen Tage der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am Mittwoch und Donnerstag unter dem Titel «Fluides Geschlecht: Bibelwissenschaftliche Perspektiven auf Homosexualität, Transsexualität und Jungfrauenschaft».

Botschaften konstruieren

Erklärtes Ziel war es den Veranstaltern zufolge, auch zur Versachlichung der Diskussion beizutragen.

«Vielfalt der biblischen Positionen kommt nicht zum Tragen.»

Stefan Schorch

Als «problematischen Befund» bezeichnete etwa der evangelische Bibelwissenschaftler der Universität Halle, Stefan Schorch, dass die Vielfalt der biblischen Positionen zu Sexualität und partnerschaftlichem Zusammenleben kaum zum Tragen komme: «Nirgendwo habe ich eine Position gefunden, wo die verschiedenen biblischen Texte in gleichberechtigter Weise berücksichtigt und wahrgenommen werden, sondern es sind immer Schwerpunktsetzungen, die sich aus dem jeweiligen Vorverständnis ergeben, um eine Botschaft zu konstruieren.»

Homosexualität in der Bibel

Die Schöpfungsgeschichte werde zwar sehr oft herangezogen, um die Zweiteilung der Geschlechterrollen theologisch zu begründen – aus kulturwissenschaftlicher Sicht sei dies allerdings falsch, so Schorch: «In der hebräischen Bibel finden sich sehr verschiedene kulturelle Entwürfe von Geschlechterrollen, von Sexualität und auch von Partnerschaft und Familie.»

Bei der Homosexualität etwa kristallisiere sich deutlich heraus, «dass wir kein ganz eindeutiges biblisches Zeugnis haben». Es gebe Bibelstellen, die Homosexualität als Sünde bezeichneten, aber auch solche, die von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern berichteten.

Schorch kritisierte, dass theologische und kirchenamtliche Stellungnahmen zum Thema häufig den Fokus auf die praktizierte Sexualität legten, aber kaum die Aspekte einer verantwortungsvollen Partnerschaftlichkeit zwischen zwei Menschen berücksichtigten.

Faktoren von Macht und Unterwerfung

Der evangelische Neutestamentler Eckart Reinmuth aus Rostock erklärte seinerseits, die Aktualität der Stossrichtung neutestamentlicher Texte liege darin, dass sie «nicht leibfeindlich, sondern macht-, gewalt- und herrschaftsfeindlich sind». Theologie und Kirche könnten sich damit gut in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Sexualitätsdiskurs einbringen, in dem die Faktoren von Macht und Unterwerfung eine wichtige Rolle spielten.

Charlotte Fonrobert, Religionswissenschaftlerin an der kalifornischen Universität Stanford, regte an, den postmodernen Geschlechter- und Sexualitätsdiskurs als Chance zu nutzen. Denn er eröffne Perspektiven, um die biblischen Texte neu zu lesen: «Bringen wir neues Denken und alte Texte in einen konstruktiven Dialog miteinander!»

«Die Bibel ist eine Bibliothek mit vielen verschiedenen Stimmen.»

Charlotte Fonrobert

Als Fazit der Tagung formulierte sie: «Man kann definitiv nicht sagen, dass es in der Bibel zu diesen Themen nur eine allgemeingültige, verbindliche Aussage und Auffassung gibt. Die Bibel ist vielmehr eine Bibliothek mit vielen verschiedenen Stimmen, die alle gleichberechtigt gehört und angeschaut werden müssen.» (kna)

Die geheimen Bindungen der Menschen | © Pixabay/Wolfgang Eckert, Pixabay License
17. Januar 2020 | 17:25
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