Desmond Tutu im Jahr 2000.
Schweiz

Desmond Tutu: Spiritualität und ziviler Ungehorsam

Der südafrikanische Theologe Rommel Roberts* war ein Weggefährte von Desmond Tutu im Kampf gegen die Apartheid. In seinem Gastbeitrag beschreibt er das Wirken des verstorbenen Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers in einem «hochgiftigen Umfeld».

Nach seinem Tod wird Erzbischof Tutu für seine Leistungen für Südafrika und die Menschheit gewürdigt. Sein ungeheurer Mut, seine brillante Weitsicht und fortwährende Hingabe haben ihn zu unserem Helden gemacht – nicht weil er berühmt war, sondern weil er gemeinsam mit den aussergewöhnlichen Taten gewöhnlicher Menschen das grausame System der Apartheid zu Fall bringen konnte. Entscheidend dabei war sein starker Glaube an Vergebung und Heilung.

Desmond Tutu war ein zutiefst spiritueller Mensch. Jeden Tag und vor jeder Aktion nahm er sich Zeit für Stille und Gebet. Darin unterschied er sich von den meisten anderen Führungspersönlichkeiten, selbst von Nelson Mandela. Erzbischof Tutu liess sich weder von Machtkämpfen noch von der Politik oder ihrem Getümmel beeinflussen. Sein Mitgefühl und die Fürsorge für alle Kinder Gottes waren seine Kraft und sein Schutz, um überwältigende Herausforderungen zu meistern, obwohl auch sein eigenes Leben bedroht wurde.

Tödliche Apartheid

Ich lernte Bischof Tutu Anfang 1978 in den Büros des Südafrikanischen Kirchenrates (SACC) in Johannesburg kennen. Er war zu dessen Generalsekretär ernannt worden. Ich wurde sein Entwicklungsbeauftragter, reiste in alle Teile Südafrikas und traf mich mit Kirchenräten und Engagierten, die an Menschenrechts- und Entwicklungsprogrammen beteiligt waren. Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, internationale Organisationen mit Südafrikanern in Verbindung zu bringen, die wegen der brutalen Apartheid-Regierung dringend Unterstützung von aussen benötigten. Dazu gehörten niederländische, britische, amerikanische, kanadische, schweizerische oder deutsche Kirchen, der Ökumenische Rat der Kirchen und Anti-Apartheid-Netzwerke.

Die blutige Niederschlagung des Soweto-Aufstandes 1976 war nicht lange her. Bürgerrechtler wie Steve Biko wurden im Gefängnis ermordet. Bischof Tutu geriet mit seiner neuen Aufgabe in ein hochgiftiges Umfeld: Das Regime ging massiv gegen alle offenen und geheimen Aktionen gegen die Apartheid vor.

Desmond Tutu (Mitte) begleitet von Rommel Roberts (rechts) in einer Aufnahme von 2013
Desmond Tutu (Mitte) begleitet von Rommel Roberts (rechts) in einer Aufnahme von 2013

Im Rahmen meiner Arbeit war ich mindestens einmal pro Monat auf Reise. Mein Hotel war ein überdachter Pickup mit Matratze, Kocher und Provianttasche. Mein Bad war der übliche Wassertank bei einer Windmühle auf dem Land. Es war nie schwer, einen Ort für einen Zwischenhalt zu finden. Denn entlang des Weges unterstützten viele mutige Menschen Tutus Arbeit, und ich wurde mit offenen Armen aufgenommen. Mit Geschichten, Gesang und Gewürzen wurden die Reisen auch unterhaltsam. Dazu kamen die Ideen aus Projektbesuchen, über die ich monatlich bei einer besonderen Messe mit Tutu berichten konnte.

Gespaltene Kirchen

Der Kampf gegen die Apartheid spaltete die Kirchengemeinschaft. Konservative Kirchen wie die Niederländisch-Reformierte Kirche unterstützten den Apartheid-Staat und rechtfertigten das rassistische System. In der Schweiz wurde die Anti-Apartheid-Aktivität des Weltkirchenrates mit Sitz in Genf als Unterstützung der «kommunistischen» Freiheitsbewegung ANC und Nelson Mandela kritisiert. Die Mehrheit der Kirchen erkannte Apartheid jedoch als Sünde. Der Südafrikanische Kirchenrat SACC wurde zu einer wichtigen Stimme für die unterdrückten und rechtlosen Menschen.

Bischof Tutu setzte sich für die veränderte Rolle der Kirchen ein, indem er den Asengeni-Fonds einrichtete. Damit wurden Familien von inhaftierten oder während der Haft getöteten Personen finanziell unterstützt, rasch und unbürokratisch. Dafür suchte ich internationale Geldgeber. Der Apartheid-Staat war von diesem Fonds nicht begeistert und beschuldigte Bischof Tutu häufig, Terroristen zu unterstützen. Bischof Tutu bewegte sich auf einem schmalen Grat.

Wendepunkt in Crossroads

Angesichts des Unrechts-Regimes mussten die Kirchen eine grundlegende Entscheidung treffen. Wir wollten einen gewaltlosen Kampf für die Gerechtigkeit führen – das bedeutete offene Konfrontation mit dem gewalttätigen Apartheid-Staat. Mit Bischof Tutu wurde besprochen, wie wir uns gegen die berüchtigten Passgesetze und die millionenfachen Zwangsabschiebungen von Menschen in sogenannte «Homelands» wehren konnten. 1985 plante das Regime zum Beispiel, 60’000 Bewohner von Crossroads umzusiedeln und die Siedlung bei Kapstadt abzureissen. Mit solchen Aktionen wurden Massen von «nicht-weissen» Menschen aus den Städten in abgelegene künstliche pseudo-unabhängige «Staaten» vertrieben.

Desmond Tutu gibt ein Interview (Aufnahme aus dem Jahr 2013).
Desmond Tutu gibt ein Interview (Aufnahme aus dem Jahr 2013).

Deshalb organisierten wir eine Tour von Bischof Tutu durch die Umsiedlungslager im Ostkap. Als er in der Ciskei ein kleines Mädchen fragte, was sie täglich zu essen habe, lautete ihre Antwort «Tee». Die klare Stimme des kleinen Mädchens machte ihn wütend, und er wurde in seinem Kampf für Gerechtigkeit immer entschlossener. In Crossroads hatte der Bischof einen wegweisenden Auftritt, wo er die Regierung und ihre «böse» Politik verurteilte. Sein Kontakt mit dem Leid und dem Schrei des einfachen Volkes nach Gerechtigkeit gaben den Anstoss für seine wichtigsten Reden. In dramatischen Appellen rief er zu zivilem Ungehorsam, internationalen Sanktionen und zur Desinvestition gegen die Apartheid auf. Dies führte zu einer Dynamik des gewaltlosen Kampfes auf nationaler und internationaler Ebene. Seine Stimme wurde zur Stimme der Kirche in Aktion. Medienleute trugen seine Botschaft in die ganze Welt.

Das Ende der Halskrausen-Morde

Im Jahr 1985 schüchterten Aktivisten die Bevölkerung immer mehr ein, damit sie sich an Boykotten beteiligen sollten. Gezielt wurden Menschen getötet, die Widerspruch wagten zum Beispiel gegen «revolutionäre Steuern» oder Angriffe auf «Verräter». Gerüchte, Anschuldigungen und falsche Informationen führten zu Spaltungen in den Townships. Sogenannte Volksgerichte von Jugendlichen setzten eine barbarische Selbstjustiz durch. Sie sprachen spontane Urteile über vermeintliche «Impimpi» (Informanten). Ein Mob übte grausame Vergeltung und tötete die Verdächtigen mit brennenden Autoreifen um den Hals.

Diese Halsketten-Morde hasste Erzbischof Tutu leidenschaftlich. An Friedenstreffen brachte er Führer aus den gegnerischen Lagern an einen Tisch. Der Gewalt und Gegengewalt sollten ein Ende gesetzt werden. Die Konflikte spielten zudem dem Apartheid-Staat in die Hände. Die Geheimpolizei beobachtete uns und wollte alle Beteiligten verhaften. Alles musste geheim ablaufen. Tutu wurde heimlich zum Veranstaltungsort in ein katholisches Kloster in Rondebosch gefahren.

Desmond Tutu im Gespräch mit Rommel Roberts
Desmond Tutu im Gespräch mit Rommel Roberts

Weitere Treffen fanden auf einer Farm statt und überraschend im «Holiday Inn». Den ganzen Morgen lang brüllten sich die «Löwen» gegenseitig an, wie wir die Anführer nannten. Dann folgte ein üppiges exotisches Mittagessen, bei dem jeder so viel essen konnte, wie er wollte. Danach lagen alle tief in ihren Sitzen und wurden zu Lämmern, mit denen Vereinbarungen getroffen werden konnten … Nach den hitzigen Diskussionen einigten sich nun alle, die Halskrausen-Morde zu beenden.

Dank seiner Führungsstärke konnte Erzbischof Tutu einen Plan durchsetzen. Wir besuchten die wichtigsten Brennpunkte, bildeten Gebetsgruppen und konnten mit einer sorgfältigen Strategie diese Barbarei tatsächlich beenden.

Die Macht kleiner Leute

Wie konnte die Apartheid überwunden werden? Gegen den unglaublichen staatlichen Machtapparat von Polizei und Militär? Es ist die Geschichte des mutigen Handelns einfacher Menschen, insbesondere von Frauen. Durch ihren gewaltlosen Widerstand haben sie das Regime in die Knie gezwungen. «Arch», wie wir den Erzbischof (Archbishop) liebevoll nannten, unterstützte die Frauen in den Lagern rund um Crossroads – er verbreitete erfolgreich ihre Stimmen und Anliegen. Die symbolischen Bilder in den Medien taten das ihre: Als hunderte und tausende singender friedlicher Frauen gegen Unrecht demonstrierten, wollten Polizisten und Militärs nicht mehr eingreifen, sie hätten eigene Mütter und Schwestern verhaften müssen.

Die Massenproteste begannen 1979 mit einer Kampagne gegen die ungerechtfertigten Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Während weisse Gemeinden nur einmal für gute Verbindungen zahlten, wurde die schwarze Bevölkerung schikaniert, musste ständig umsteigen und mehrfach zahlen. In Gerichtsverfahren konnten wir erfolgreich die Entscheidung der staatlichen Verkehrsbehörde rückgängig machen. Wichtig war auch ein langer Busboykott in Kapstadt. Solche Aktionen machten Mut und wiederholten sich an anderen Orten. Es wuchs eine immer kraftvollere Bewegung, die mit dem berühmten Friedensmarsch von Erzbischof Tutu mit 30’000 Menschen in Kapstadt 1989 endete – der Anfang vom Ende der Apartheid. Weil viele Menschen die diskriminierenden Passgesetze gezielt missachteten, liess sich das rassistische System nicht mehr aufrechterhalten.

Die Poo-Proteste

Desmond Tutu blieb auch nach seinem Rücktritt als Erzbischof ein mutiger Mann, wie ein Beispiel aus dem Jahr 2015 zeigt. Mehr als 20 Jahre nach der Befreiung von der Apartheid hatte die ANC-Regierung kaum etwas an den miserablen Lebensbedingungen geändert, zum Beispiel bei der Abwasserentsorgung. In der Nähe des Kapstädter Flughafens kam es zu Demonstrationen, bei denen Eimer mit Fäkalien geworfen wurden. Die Poo-Protestler (Poo = Kot, Fäkalien) drohten damit, die gesamte Stadt Kapstadt mit 200’000 Menschen zu stürmen.

Einer Gruppe von «Concerned Citizens» gelang es, die Anführer zu einem Treffen mit Kirchenführern und Erzbischof Tutu in St. George’s zu bewegen. Denn die Poo-Leute hatten Ehrfurcht vor Erzbischof Tutu. Die letzte Sitzung fand im Altarraum der Kathedrale statt. Anschliessend sollten die Presse- und Fernsehteams informiert werden. Die Drohung eines Marsches von zehntausenden Menschen in die City wurde zurückgezogen, wenn die Stadt auf die Vorschläge der Kirchenleitungen eingehen würde. Nun rechnete Erzbischof Tutu auf den Stufen seiner Kathedrale öffentlich mit der ANC-Regierung ab und ihrem Versagen in Menschenrechtsfragen. Danach besuchten die Kirchenleitungen zusammen mit den muslimischen und jüdischen Führungsleuten den Stadtteil Khayelitsha. Dieser «Walk of witness» setzte den Staat weiter unter Druck, die Drecksprobleme endlich anzupacken.

Tränen der Barmherzigkeit

Im Jahr 1996 übernahm Erzbischof Tutu wohl eine der schwierigsten Aufgaben, die man einem einzelnen Menschen aufbürden kann. Er wurde gebeten, die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission zu leiten, welche die politischen und rassistischen Verbrechen während der Apartheid untersuchen sollte. Damit sollte die Gesellschaft nach Ende des Staatsterrors versöhnt werden. Doch ist dies überhaupt möglich? Kann man zum Beispiel einem Mörder des eigenen Kindes verzeihen?

Die Rufe nach Gerechtigkeit und Wahrheit trafen auf die Forderung nach Vergeltung und der Forderung nach einer Art Nürnberger Prozess über das rassistische Apartheid-System. Tutus Aufgabe war es, den Berichten der Opfer und den Schuldeingeständnissen der Täter zuzuhören. Oft gelang ihm dies nur unter Tränen. Er wollte die Gerechtigkeit durch Barmherzigkeit mildern und Wege zu echter Versöhnung schaffen. Das war seine Herausforderung und seine Vision von der südafrikanischen Regenbogennation, die niemals auf Rache aufgebaut werden könne, weil die Zukunft auf Vergebung beruhen müsse und dem afrikanischen Geist des gemeinschaftlichen «Ubuntu». Das war das grösste Geschenk von «The Arch» an unser Land und an die Welt. Eine Inspiration für alle, die für Gerechtigkeit und Frieden kämpfen.

Übersetzung und Redaktion: Karl Johannes Rechsteiner

*Rommel Roberts wurde 1949 in Durban (Südafrika) geboren. Der Theologe arbeitete als Entwicklungsbeauftragter von Desmond Tutu, dem damaligen Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates, und engagierte sich ab den 1970er Jahren an seiner Seite gegen die Apartheid. Dabei stand er auch in engem Kontakt mit dem ökumenischen Schweizer Kirchen-Netzwerk gegen das rassistische System und moderierte immer wieder entsprechende Tagungen. In einem Buch mit Vorwort von Desmond Tutu setzte er den stillen Heldinnen und Helden in Südafrika ein Denkmal: «Wie wir für die Freiheit kämpften», Rommel Roberts, Lokwort-Verlag 2014.


Desmond Tutu im Jahr 2000. | © KNA
16. Januar 2022 | 15:47
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