Davistern am alten jüdischen Friedhof in Frankfurt.
Schweiz

Der «neue» Antisemitismus, die mediale Empörung und ihre Folgen

Zürich, 20.6.17 (kath.ch) Mit Blick auf die empört geführte, öffentliche Diskussion hat sich der WDR dazu entschieden, den vom deutsch-französischen Kultursender Arte zurückgezogenen Dokumentarfilm «Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa» morgen Mittwoch auf ARD auszustrahlen. Allerdings verknüpft mit einer anschliessenden Diskussion. Arte zieht nun nach und zeigt das Programm der ARD ebenfalls. Doch, ist der mediale Wirbel um die Ausstrahlung der unausgegorenen Dokumentation gerechtfertigt? Ein Kommentar von der medientipp-Redaktorin Natalie Fritz.

Natalie Fritz

«Unsere historische Verantwortung verpflichtet uns dazu, den Unsäglichkeiten, die in der Dokumentation belegt werden, entschieden entgegenzutreten», meint der «Bild»-Reporter Claas Weinmann pathetisch im Vorspann des Films. Welcher Film? Es geht um die Dokumentation über den neuen Antisemitismus in Europa, die vom Auftraggeber Arte aufgrund formaler Kriterien nicht ausgestrahlt wird. Diese als «Zensur» verschriene Massnahme hat im Feuilleton-Teich hohe Wellen geschlagen. Begeistert bedankten sich die empörten Journalisten bei der «Bild»-Redaktion für ihren «winkelriedschen» Akt, den Film für 24 Stunden auf Youtube hochzuladen. Dadurch erhalte jede und jeder die Möglichkeit, sich selbst ein Bild vom Ausmass der durch den Sender vollzogenen Zensur zu machen.

Doch gelangt der Film mit dem plakativen Titel tatsächlich zu Erkenntnissen, die Arte als zu heikel zum Senden auffassen könnte? Das fast zweistündige Werk enthüllt besorgniserregende Entwicklungen: Der neue Antisemitismus ist am linken und am rechten Rand des politischen Spektrums anzutreffen und – noch schlimmer –populär. Minderheitengruppierungen verbünden sich mit «antizionistischen» Kämpfern. Leider geht der Film kaum darauf ein, ob dieser neue Antisemitismus auf Mitgefühl für die «armen» Palästinenser oder auf nationalsozialistischen Ideologien basiert.

Die gefährliche Vermischung von Antizionismus und Antisemitismus hätte es aber verdient, genauer analysiert zu werden. Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel betont im Film, dass in antisemitischen Reden «Israel» als Ersatzbegriff für «Juden» fungiert und man durch diese oder ähnliche Formulierungen juristische Folgen vermeiden könne. Die Filmemacher vertiefen diesen Aspekt leider nicht. Lieber verdeutlichen sie mit massenhaft Querbezügen und historischen Verweisen die Ausmasse des Antisemitismus in Europa.

Das ist zwar gut gemeint, aber man verliert den Überblick. Formal überzeugt der Film nicht: zu viele lose Enden, zu wenig Konsistenz in der Erzählung, zu viele Experten und Stimmen aus dem Volk. Dazu kommt die irritierende Musikauswahl, die nicht mit dem brisanten Inhalt korrespondiert. Ein Verdienst des Films ist, dass er die schwelenden Aggressionen gegen Juden in Europa aus verschiedenen Perspektiven zeigt. In der Umsetzung wirkt er aber amateurhaft und wenig konsistent – sowohl Links als auch Rechts können sich in ihrem je eigenen Antisemitismus bestätigt sehen. Artes Bedenken scheinen aus dieser Warte begründet und die vom WDR vorgesehene Kombination mit einer Diskussionsrunde unbedingt nötig.

ARD zeigt eine Sondersendung zur Dokumentation mit anschliessender Debatte am Mittwoch, den 21. Juni 2017. ARTE übernimmt das im ARD ausgestrahlte Programm am Mittwoch, 21. Juni 2017, ab 23 Uhr zeitversetzt, damit die französischen Zuschauer denselben Kenntnisstand haben.

Davistern am alten jüdischen Friedhof in Frankfurt. | © Esther Stosch/www.pixelio.de
20. Juni 2017 | 16:16
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