Vera Rüttimann vor einem Ausstellungsplakat in Berlin-Charlottenburg
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«Der 9. November 1989 hat mein Leben verändert»

Der Fall der Berliner Mauer vor dreissig Jahren: Noch immer bekommt kath.ch-Autorin Vera Rüttimann Hühnerhaut, wenn sie daran denkt. Die Schweizerin ist mit Berlin ganz besonders verwoben.

Raphael Rauch

Treue kath.ch-Leser verbinden mit Vera Rüttimann (51) eine umtriebige Journalistin zu religiösen Themen. Egal ob «Woche der Religionen», «Für starke Frauen in der Kirche» oder das Musikinstrument König Davids: Im Online-Archiv von kath.ch finden sich über 300 Treffer, die aus der manchmal spitzen Feder der temperamentvollen Aargauerin stammen.

Was nur wenige wissen: Vera Rüttimann ist genauso gut in Berliner Clubs anzutreffen, denn Techno-Partys sind eine ihrer Leidenschaften. Oder das Fotografieren – in ihrer Wahlheimat in Berlin.

In der Kreativszene zu Hause

«Ich sehe mich als Kulturschaffende, bin nicht nur Kirchen-Journalistin», sagt die Katholikin. Am liebsten macht sich die Foto-Künstlerin auf die Suche nach Motiven, die von Berliner-Geschichten erzählen.

Ehemaliger DDR-Grenzübergang Checkpoint Charly in Berlin, 1995
Ehemaliger DDR-Grenzübergang Checkpoint Charly in Berlin, 1995

«Berlin ist eine vielschichtige Stadt. In einer Strasse lassen sich verschiedene Zeitebenen ablesen: Gründerzeit, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit, Wendezeit, Neubauten. Das gibt es in der Schweiz einfach nicht», sagt Vera Rüttimann.

Mittlerweile pendeln viele Schweizer fürs Wochenende nach Berlin. Freitagabends geht es in den Flieger – und zwei Stunden später hört man in hippen Szene-Lokals, wie sich Schweizer auf Mundart über die niedrigen Preise auslassen.

«Ich bin keine Easyjet-Wochenend-Touristin», stellt Vera Rüttimann klar. Seit dreissig Jahren lebt sie mit Unterbrechungen in Berlin. «In der Schweiz finanziere ich mir Berlin, damit ich hier meinen Kreativ-Projekten nachgehen kann. Ich schätze die Arbeit für kath.ch sehr. Die Religionslandschaft in der Schweiz ist sehr spannend.»

Stasi fängt Briefe in die Schweiz ab

Die Wiedervereinigung scheint für Vera Rüttimann wichtiger gewesen zu sein als für so manchen Westdeutschen. Am 9. November 1989 steckte die Aargauerin mitten in ihrer KV-Prüfungsphase, als «Tagesthemen»-Anchor Hanns Joachim Friedrichs die legendären Worte sagte: «Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten. Sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag.»

Vera Rüttimann im Jahr 1990 mit DDR-Fahne an der Berliner Mauer
Vera Rüttimann im Jahr 1990 mit DDR-Fahne an der Berliner Mauer

Heute erzählt Vera Rüttimann: «Ich sass zuhause und habe geheult. Natürlich konnte ich mich nicht mehr auf die Prüfungen konzentrieren.» Über Taizé hatte sie schon Jahre zuvor Kontakt zur Kirche hinter dem Eisernen Vorhang und stand im Briefwechsel mit Protestanten in der DDR. Die SED-Diktatur sah in der Schweizerin wohl eine ausländische Agentin – und lehnte ihren Visumsantrag ab.

«Wie im Delirium»

Im Dezember 1989 holte sie dann nach, was sie am 9. November im Aargau verpasst hatte: endlich das zusammenwachsende Berlin kennen zu lernen. «Natürlich war ich ein Mauerspecht und habe mir ein Stück Mauer geholt.» Heute ist das Stück Mauer in der Schweiz. Zur Stimmung 1989 sagt Vera Rüttimann: «Einfach unbeschreiblich. Noch heute bekomme ich Hühnerhaut. Es war wie ein Fiebertraum, wie im Delirium oder wenn man sturzbetrunken wäre. Total euphorisierend.»

Die Kastanienallee, Prenzlauer Berg, in Ostberlin 1991
Die Kastanienallee, Prenzlauer Berg, in Ostberlin 1991

Im Mai 1990 ging sie dann länger nach Berlin. «Es war wie eine Zeitreise. Man kommt aus der reichen Schweiz und fällt gefühlt vierzig Jahre zurück. Man sieht eine Stadt im Nachkriegszustand. Vieles ist verfallen, grau, schmutzig, irgendwie stehen geblieben. Aber das war ja das Spannende. Ich konnte den Osten regelrecht riechen: Kohle-Staub, Alu-Geld. Es roch ganz anders.»

Kontakte zur SED-Spitze

Stolz zeigt sie ein Foto aus dem Jahr 1991. Es zeigt sie zusammen mit dem einstigen SED-Politiker und DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow: «Als ich ihn 1990 kennen lernte, eröffnete er mir neue Welten: in die der DDR, später in Ostdeutschland. Er hat mir Zeitgeschichte vermittelt. Wir sind immer noch im Kontakt.» Vera Rüttimann sagt, sie habe bewusst den Kontakt zur SED-Nachfolgeorganisation PDS gesucht. «Weil ich viel mehr wissen wollte über diesen untergegangenen Staat. Was ich mit Modrow, Gregor Gysi und Co. erlebt habe, war Geschichtsstunde live. Eine Lebens-Uni.»

Vera Rüttimann mit Hans Modrow
Vera Rüttimann mit Hans Modrow

Noch wichtiger als die Parteiengeschichte ist Vera Rüttimann freilich die Berliner Kirchengeschichte. Für Schweizer Schulklassen und Kunstinteressierte bietet sie Kirchenführungen in Berlin an. «Berlin hat spannendere Kirchen zu bieten als Rom», sagt die Aargauerin. Seit 29 Jahren engagiert sie sich auch in der Zionskirche in Berlin-Mitte. Über den Sommer waren ihre Bilder in der Ausstellung «Mein Berlin Wonderland. Fotografien 1990-2019» zu sehen. «Das war eines der glücklichsten Momente in meinem Leben, weil ich erstmals einige Bilder öffentlich zeigen konnte.»

Chronistin der Berliner Umbruchsphase

Die Zionskirche ist ein geschichtsträchtiger Ort. «Hier verdichtet sich deutsch-deutsche Geschichte. Ein architektonisches Juwel, das nicht saniert wurde. Noch ziemlich fleckig. Also das Gegenteil einer Schweizer Kirche», sagt Vera Rüttimann. Hinzu kommt die Geschichte der Kirche, die mit dem Widerstandskämpfer Bonhoeffer und DDR-Oppositionellen mutigen Köpfen eine Heimat bot. «Alles, was bunt war, hat sich hier gesammelt.» Vera Rüttimann ist katholisch geblieben, auch wenn die Zionskirche eine evangelisch-lutherische Gemeinde ist. «Als Schweizerin kommen mir die Lutheraner eher katholisch als reformiert vor.»

Die Journalistin sieht sich nicht nur als Chronistin des kirchlichen Lebens in der Schweiz – sondern auch der Berliner Umbruchsphase. «Ich habe kontinuierlich mit der Kamera Veränderungen festgehalten. Manche sagen, meine Bilder haben einen zeithistorischen Wert.» Die Fotografie sei mehr als bloss eine Leidenschaft. «Sie ist ein Mittel zur Verarbeitung. Bei dem Veränderungswahn in Berlin kommt kein Mensch mehr mit. Fotografieren wirkt für mich wie eine Therapie.»

Feiern mit Rotkäppchen-Sekt

Vera Rüttimann sagt, sie bekomme ihre Arbeit für kath.ch und andere Medien in Deutschland und der Schweiz gut unter einen Hut. «Ich habe eine innere Uhr: Spätestens nach drei Wochen muss ich aus der Schweiz raus, zurück nach Berlin.» Den Festtag feierte sie am Samstag in Berlin – mit Rotkäppchen-Sekt am Brandenburger Tor. In Sichtweite zur Schweizer Botschaft.


Video zur Fotoausstellung «Mein Berlin Wonderland»

Vera Rüttimann vor einem Ausstellungsplakat in Berlin-Charlottenburg | © zVg
10. November 2019 | 12:06
Lesezeit: ca. 4 Min.
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