Rütli
Kommentar

Das «Rütli» der Antisemitismus-Bekämpfung

In Frankfurt am Main wird am Sonntag erstmals der «Seelisbergpreis»* verliehen. Er geht an die emeritierte US-Professorin Amy-Jill Levin für ihre jüdisch-christlichen Studien. Der Preis erinnert an die «Internationale Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus» im August 1947 in Seelisberg UR. Ein Gastkommentar.

Christian Rutishauser**

Seelisberg ist weithin als Dorf über der Rütliwiese bekannt, seit dem 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft 1991 auch als erster Etappenort des «Weg der Schweiz», wenn man von Rütli aus unterwegs ist.

In vielen Schweizer Köpfen ist zudem das ehemalige Hotel Kulm von Seelisberg auch religiös konnotiert: Von 1971 bis 1991 hatte es Maharishi Mahesh zu seinem wichtigsten Zentrum für Transzendentale Meditation gemacht. In jenen Jahren stellte das Zentrum des Yogi aus Indien eine befremdliche Kuriosität des Hippie-Mystizismus dar.

Yogi Maharischi und die Hippies auf dem Seelisberg
Yogi Maharischi und die Hippies auf dem Seelisberg

Wiege des jüdisch-christlichen Dialogs

Das Hotel thront weithin sichtbar über dem Vierwaldstättersee und wurde vor einem Jahr, geheimnisvoll verwaist, zum Verkauf angeboten. Dass im Hotel in der ersten Augusttagen des Jahres 1947 aber Religionsgeschichte geschrieben worden ist, ist heute über Fachkreise hinaus wenig bekannt.

Damals fand da die «Internationale Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus» statt. Die Seelisbergkonferenz gilt heute als Wiege des jüdisch-christlichen Dialogs. Zu deren 75-Jahr-Jubiläum wird nun in diesem Jahr zum ersten Mal der mit 20’000 Euro dotierte «Seelisbergpreis» in Frankfurt am Main verliehen.

Mit dem Preis sollen in Zukunft jährlich Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die sich um das jüdisch-christlichen Verhältnis verdient gemacht haben, sei es auf wissenschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Ebene. Die erste Preisträgerin wird die Amerikanerin Prof. Amy-Jill Levine, emeritierte Professorin für Jüdische Studien und Neues Testament.

Neues Testament, jüdisch erklärt

Als Jüdin hat sie die Texte des Neues Testament aus ihrem jüdisch-messianischen Kontext der Zeit kommentiert. Eine besondere Frucht ihres Schaffens ist «Das Neue Testament. Jüdisch erklärt», das seit 2021 auch auf Deutsch vorliegt. Oder auch «The Pharisees» (2022), das ein Standardwerk für eine Neubeurteilung der Pharisäer werden dürfte. Mit ihren Beiträgen, die Bibel mit jüdischen wie mit christlichen Augen vergleichend zu lesen, ist sie einem breiten, englischsprachigen Publikum bekannt geworden.

Preisvergabe durch zwei Institutionen

Der Preis vergeben das Zentrum für interkulturelle Theologie und Religionen der Universität Salzburg und der Internationale Rat von Juden und Christen (ICCJ). Ersteres ist seit letztem Jahr in einem Grossprojekt engagiert, um den jüdisch-christlichen Dialog sowohl auf der Ebene der theologischen Grundlagenforschung als auch der gesellschaftlichen Meinungsbildung weiterzuentwickeln. Dabei arbeitet das Zentrum mit Partnern wie der gemeinnützigen Eugen-Biser-Stiftung in München sowie der jüdischen Leo-Baeck-Foundation und der Katholischen Akademie, je in Berlin, zusammen.

Die Gründung des ICCJ wurde 1947 auf dem Seelisberg angeregt und ein Jahr danach an der Universität Freiburg i. Ü. vollzogen. Doch erst in den 1960 konnte dieser Internationale Rat seine volle Wirkung entfalten und die nationalen Gesellschaften in Europa und Nordamerika fruchtbar koordinieren. Der ICCJ, der jährlich eine internationale Konferenz zu gesellschaftlichen und religiösen Aspekten des jüdisch-christlichen Verhältnisses veranstaltet, hat seinen Sitz im Martin-Buber-Haus im deutschen Heppenheim.

Seelisbergkonferenz: 10 Thesen zur Verständigung

Das Institut für jüdisch-christliche Forschung an der Universität Luzern hat in den letzten Jahren die Seelisbergkonferenz von 1947 erforscht, in einem vom Schweizerischen Nationalfond finanzierten Projekt. Die Studie zeigte auf: Zwei Jahre nach Kriegsende war zwar Nazi-Deutschland besiegt, doch nicht der Antisemitismus. Über 70 Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, Erziehung und Bildung, sowie aus den verschiedenen Kirchen und dem Judentum trafen sich, was zu einer Pionierkonferenz für interreligiöse Zusammenarbeit mit gesellschaftlicher Relevanz werden sollte.

Die Hotels Kulm (l.) und Sonnenberg in Seelisberg. Postkarte mit Poststempel 14.6.1948
Die Hotels Kulm (l.) und Sonnenberg in Seelisberg. Postkarte mit Poststempel 14.6.1948

Sie diskutierten Hilfeleistungen für Kriegsflüchtlinge und erarbeiteten Massnahmen, wie in Politik und Medienarbeit, in Erziehung und in den Kirchen der Verachtung der Juden entgegenzutreten sei. Sie formulierten einen Aufruf an die Kirchen, der den inzwischen als «Die 10 Thesen von Seelisberg» bekannten Text enthält. Dieser gilt als Durchbruch für Verständigung zwischen Juden und Christen.

Über den jüdischen Historiker Jules Isaak, der seine Familie in der Schoa verloren hatte, und andere Persönlichkeiten, die an der Seelisbergkonferenz teilgenommen haben, laufen direkte Kontakte zu Papst Johannes XXIII. Dieser setzte die Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1963-1965) auf die Agenda.

«Nostra aetate» enthält Seelisberg-Aussagen

So finden sich einige Sätze von Seelisberg fast wörtlich zwanzig Jahre später in der Konzilserklärung «Nostra aetate» zum Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen. In der Forschung wie in den Religionsbüchern aller christlichen Konfessionen sind heute die Standards, die Seelisberg gefordert hat, umgesetzt. Demnach gilt, Jesus und die frühe Kirche als jüdische Bewegung zu verstehen und zu würdigen.

Papst Johannes XXIII. – hier mit Königin Elisabeth II. und Prinz Philip.
Papst Johannes XXIII. – hier mit Königin Elisabeth II. und Prinz Philip.

Auch die Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus hat sich seither bekanntlich breit entfaltet. Die institutionellen Trägerschaften haben sich ausdifferenziert. In der Schweiz steht die «Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus» ganz in der geistigen Tradition der Seelisbergkonferenz. Sie wurde 1990 von Sigi Feigel gegründet, dem ehemaligen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG).

Die Bekämpfung von Antisemitismus ging bereits damals einher mit der Sensibilität für jegliche Diskriminierung von Minderheiten. Es ging darum, überparteilich Bildung und Erziehung, Politik und Recht mitzuprägen.

Luzerner Gedenken an Seelisberg-Konferenz

Kollegiatsstift und Pfarrei St. Leodegar in Luzern sowie der Pastoralraum Stadt Luzern gedenken der Seelisberg-Konferenz an drei Abenden  in der Hofkirche Luzern mit Gottesdiensten und Impulsreferaten:

  • Personen und Thesen der Seelisberg-Konferenz: Dienstag, 19. Juli um 18.30 Uhr; Eucharistie mit Propst Christoph Sterkman und Impulsreferat des Theologen Martin Steiner BA.
  • Jesus, der Jude, und jüdische Elemente im christlichen Gottesdienst: Mittwoch, 20. Juli um 18.30 Uhr; Eucharistie und Impulsreferat mit
    Bischof Felix Gmür.
  • Seelisberg als Meilenstein des christlich-jüdischen Dialogs: Dienstag, 2. August um 18.30 Uhr; Gottesdienst mit Stephan Leimgruber und Impulsreferat von Christian M. Rutishauser SJ.
    Link zur Info auf der Bistumsseite

*Die Preisverleihung findet am Sonntag, 17 Uhr, im Haus am Domplatz, Domplatz 3, Frankfurt am Main statt.

**Christian Rutishauser, Berater für jüdisch-christliche Angelegenheiten der Schweizer und der Deutschen Bischöfe sowie des Heiligen Stuhls.


Rütli | © Barbara Fleischmann
25. Juni 2022 | 11:53
Lesezeit: ca. 4 Min.
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