Beten lässt einen Stille erleben.
Schweiz

Bruno Brantschen: «Beten ist heutzutage individueller geworden»

Man sitzt Bruno Brantschen im Meditationsraum des Lassalle-Hauses gegenüber. Der Jesuit, der schon seit elf Jahren im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Edlibach wirkt, betet still mit geschlossenen Augen – und diese Stille steckt sofort an. Man wird ruhig. Man fühlt sich bei sich selbst. Beten ist aber nicht nur deshalb sehr wichtig, wie der Jesuitenpater im Interview erklärt. Das Gebet öffne für den bergenden Urgrund unter allen Abgründen.

Wolfgang Holz

Herr Brantschen, es gibt das legendäre Bild der betenden Hände von Albrecht Dürer. In der Realität sieht man gefaltete, betende Hände in der Kirche im Gottesdienst immer weniger. Zumindest kommt einem das so vor. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen, oder wie nehmen Sie das wahr?

Der Klassiker: Die betenden Hände von Albrecht Dürer sieht man in der Kirche heutzutage nicht mehr so häufig.
Der Klassiker: Die betenden Hände von Albrecht Dürer sieht man in der Kirche heutzutage nicht mehr so häufig.

Bruno Brantschen*: Es gibt sie schon noch, die gefalteten betenden Hände. Aber dadurch, dass es weniger Kirchenbesucherinnen und -besucher geworden sind, gibt es natürlich auch weniger Leute mit gefalteten Händen beim Beten (schmunzelt). Aber ja, diese Form der Gebetshaltung wird heutzutage nicht mehr so gepflegt, sie ist nicht mehr so in Gebrauch.

«Es genieren sich wohl manche Menschen in der Kirche, ausdrücklich eine Gebetsgebärde zu zeigen.»

Aber warum nicht? Die gefalteten Hände verkörpern doch irgendwie eine Urgebärde des Betens, der Zuwendung zu Gott. Und durch das Falten der Hände fokussiert sich der Betende bewusst auf Gott. Oder wirken gefaltete Hände als zu devot, als zu altmodisch?

Brantschen: Ich würde sagen, im Bewusstsein einer Schweizer Mentalität, die Wert auf Zurückhaltung legt, genieren sich wohl manche Menschen in der Kirche, ausdrücklich eine Gebetsgebärde zu zeigen. Vielleicht bekunden viele eher im Privaten durch solche Gesten ihre Nähe zu Gott. Grundsätzlich muss man sagen, dass es auf den Kontext des Betens ankommt.

Bruno Brantschen SJ im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Edlibach
Bruno Brantschen SJ im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Edlibach

Beten ist heutzutage sicher individueller und vielfältiger geworden. Menschen finden in anderen Religionen Heimat, wo solche Urgebärden ebenso gängig sind. Andererseits finden gerade junge Menschen wieder Gefallen an traditionellen Formen des Gebets – wie man beispielsweise jedes Jahr beim Adoray-Festival in Zug beobachten kann. Ich möchte mir kein Urteil erlauben, ob Gebetsformen zu devot oder zu verklemmt sind. Gebetsgebärden können Ausdruck einer inneren Sammlung sein.

«Die Hände zu Gott erheben ist sicher eine religiöse Urgeste.»

Bei verschiedenen Leuten habe ich in der Kirche schon beobachtet, dass sie wie der Priester mit ausgebreiteten Armen beten. Das wirkt einerseits sehr theatralisch, andererseits sehr freiheitsliebend und gottergeben. Woher kommt das?

Brantschen: Die Hände zu Gott erheben ist sicher eine religiöse Urgeste. Wenn Leute das in der Kirche machen, ist das sehr mutig. Denn diese Geste signalisiert das Loslassen von Kontrolle und Schutz, die völlige Hingabe an Gott. Ich erhebe meine Hände zu Gott und öffne mich für das Wirken des Heiligen Geistes.

Beten mit ausgebreiteten Armen: Bruno Brantschen
Beten mit ausgebreiteten Armen: Bruno Brantschen

Beim Rosenkranz-Gebet wird Beten zum kollektiv-repetitiven Ritual. Sind solche Formen des kollektiven Gebets noch gefragt, oder hat sich der Rosenkranz komplett überholt?

Brantschen: Die klassischen Rosenkranzandachten in der Kirche sind sicher weniger geworden, weil eben, wie gesagt, auch weniger Menschen in die Kirche gehen. Doch, selbst junge Menschen beten den Rosenkranz. Manche von ihnen tragen sogar an den Händen sogenannte Rosenkranzringe, um diese Gebetsform spontan irgendwo pflegen zu können. In der Bahn, in der Natur beispielsweise. Es gibt auch Rosenkranz-Gebetsgruppen.

«Durch die Gebetswiederholungen kann der Betende sich loslösen von seinen eigenen Gedanken.»

Worin liegen denn die Kraft des Rosenkranzgebets?

Brantschen: Das Rosenkranzgebet ist zum einen ein einfaches gemeinsames Beten. Zum anderen ist es ein repetitives Ritual infolge der Gebetswiederholungen und beinhaltet meditative und kontemplative Momente. Durch die Gebetswiederholungen kann der Betende sich loslösen von seinen eigenen Gedanken und sich gleichzeitig mit wesentlichen Inhalten aus dem Leben Jesu beschäftigen.

Bruno Brantschen meditiert jeden Morgen.
Bruno Brantschen meditiert jeden Morgen.

Was meinen Sie damit?

Brantschen: Man vertieft sich beim Rosenkranzgebet gleichsam in drei Zyklen in das Leben Jesu: Von der Geburt über das Sterben bis zur Auferstehung. Durch das gemeinsame Beten kann dann eine Art Flow, eine Gebetsmelodie entstehen – das ist eine sehr intensive Form christlichen Betens, die den Zusammenhalt untereinander stärken kann. Wir haben früher zuhause in der Familie oft den Rosenkranz gebetet.

«Ich meditiere, wenn es geht, morgens eine halbe Stunde.»

Apropos. Wie beten Sie heute persönlich? Jesuiten gelten als sehr diszipliniert.

Brantschen: Ich gehöre vermutlich zu den weniger disziplinierten (lacht). Ich meditiere, wenn es geht, morgens eine halbe Stunde. Es hilft mir, dass ich dabei mit der Hausgruppe des Lassalle-Haus meditiere. Dabei bete ich das Jesus-Gebet. Es stammt aus der ostkirchlichen Tradition. Ich sitze im Meditationssitz und spreche jeweils beim Einatmen still «Jesus Christus» und beim Ausatmen «Erbarme Dich meiner». Dieses Gebet ist verwandt mit mantrischen Methoden anderer Religionen. Abends dann bete ich 15 Minuten das «Gebet der liebenden Aufmerksamkeit».

Nach der Meditation
Nach der Meditation

In der Tradition unseres Ordensgründers Ignatius von Loyola heisst dieses Gebet «Examen». Es geht dabei gleichsam um Qualitätsprüfung. Ich lasse die Geschehnisse des Tages vor meinem inneren Auge vorbeiziehen und verkoste sie. Ich danke Gott für die geschenkte Zeit und für alles, was mich am Tag genährt hat. Ich bitte um Vergebung, wo ich andere verletzte oder mich selbst abwertete. Zum Abschluss lege ich den Tag mit dem Bruder-Klaus-Gebet zurück in Gottes Hände.

«Beten hilft einem still zu werden, Stille zu erleben.»

Warum ist denn Beten so wichtig?

Brantschen: Beten hilft einem still zu werden, Stille zu erleben. Das ist schon sehr viel. Beten fördert die Selbsterkenntnis. Man lernt bewusster zu leben, indem man sein Tun wahrnimmt und reflektiert. In einem tieferen geistlichen Sinn spannt das Beten einen weiten Raum des Vertrauens auf. Ich bette meine Ängste und Sorgen in das Geheimnis, das viele Menschen «Gott» nennen. Das Gebet will den Menschen im Vertrauen bergen,  dass Gott die Welt zum Guten führen wird – selbst wenn das Leben nicht immer einfach ist, ja, die Welt manchmal hoffnungslos erscheint.

Grün ist die Hoffnung: Bemooste Steine im Garten des Lassalle-Hauses wirken beruhigend.
Grün ist die Hoffnung: Bemooste Steine im Garten des Lassalle-Hauses wirken beruhigend.

Das Entscheidende beim Beten ist zu spüren, dass es einen Urgrund unter all den menschlichen und weltlichen Abgründen gibt, der tiefer und nachhaltiger ist als alles Destruktive, das gerade heute in der Welt mit Händen zu greifen ist. Dabei kann gerade das gemeinschaftliche Beten ein starkes solidarisches Gemeinschaftsgefühl wecken.

«Jedes bewusste Gebet ist Meditation. Es sammelt und mittet ein.»

Das hört sich sehr schön an – aber wie können Menschen zum für sie persönlich authentischen und erfüllenden Gebet finden?

Brantschen: Der Markt der spirituellen Möglichkeiten ist tatsächlich riesig und schwer überschaubar geworden. Im Lassalle-Haus möchten wir den Menschen auf diesem Markt Orientierung geben. Dazu bieten wir etwa den Kurs «Einführung in die Meditation» an. Dort geben wir Kurzeinführungen in vier bewährte spirituelle Übungswege: zwei ehemals fernöstliche – Zen-Meditation und Yoga – und zwei christliche – das Jesus-Gebet und das ignatianische Gebet.

Die Eingangstür ins Lassalle-Haus öffnet sich von selbst - von Gotteshand?
Die Eingangstür ins Lassalle-Haus öffnet sich von selbst - von Gotteshand?

Selbstverständlich kann man das Meditieren und Beten auch alleine versuchen. Dazu braucht es nicht viel: einen ruhigen Ort, in der Wohnung, in einer Kirche, in der Natur. Ein paar Minuten Zeit und Stille. Dann, wenn es geht, die Augen schliessen und aufmerksam werden auf den Atem. Wenn die vielen Gedanken auf mich einstürmen, mich wieder auf den Atem konzentrieren. Wenn ich will, kann ich mich dabei auch bewusst Gott zuwenden, der Gegenwart ist. Ich kann mich zum Beispiel den Worten öffnen «Gott, ich bin da. – Du bist da.»

«Oft ist einfach da sein und atmen mehr Gebet, als wenn jemand viele Worte macht.»

Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Meditation und Gebet?

Brantschen: Jedes bewusste Gebet ist Meditation. Es sammelt und mittet ein. Meditation ist dann Gebet, wenn der Mensch darin die Nähe zu Gott und zum göttlichen Geheimnis sucht. Doch ist nicht jede Meditation ein Gebet. Ein Mensch kann meditieren, ohne zu beten und sich auf Gott ausrichten zu wollen. Da geht es um bewusste Selbstwahrnehmung von Gefühlen, vom Körper, um Bewusstwerdung und Gegenwärtigsein. Hier bewegen wir uns in spannenden Fragen: Wann ist ein Gebet ein Gebet? Oft ist einfach da sein und atmen mehr Gebet, als wenn jemand viele Worte macht.

Schild an der Ausfahrt des Lassalle-Hauses
Schild an der Ausfahrt des Lassalle-Hauses

Meditieren und Yoga sind heutzutage sehr beliebt, wie die zahlreichen Kurse im Lassalle-Haus beweisen. Andererseits werden die Kirchen und die Gottesdienste immer leerer, weil sich viele nicht mehr von der formelhaften Liturgie der Eucharistiefeier angesprochen fühlen. Gottesdienste werden oft langweilig und unpersönlich empfunden. Könnte man in katholischen Gottesdiensten Gott nicht durch meditative und kontemplative Elemente erlebbarer machen?

«Dazu kommt, dass Liturgien seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht selten eine Schlagseite haben.»

Brantschen: Es ist so: Die Liturgie einer Eucharistiefeier hat eine anspruchsvolle Sprache, die vielen Menschen fremd geworden ist. Es ist ein Faktum, dass die christlich-kirchliche Sozialisation von Menschen dramatisch abnimmt. Dadurch wächst diese Distanz. Das ist eine ernste Anfrage an die Kirche: Wie gestaltet sie liturgisches Beten, dass es Menschen berühren kann.

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Dazu kommt, dass Liturgien seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht selten eine Schlagseite haben. Sie können sehr wortlastig sein. Manche Liturgen und Liturginnen meinen, jedes Gebet und Zeichen erklären zu müssen. Es wäre deshalb wünschenswert, in den Gottesdiensten bewusste Momente der Stille einzubauen. Mehr Stille hilft dem, was Liturgie will – Gott begegnen.

«Ein Gebet ohne entsprechendes christliches Handeln macht keinen Sinn.»

Zum Schluss noch eine ganz andere Frage: Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner hat einmal gesagt: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es. Genügt Beten für eine gute Sache oder bedingt Beten unbedingt auch christliches Handeln?

Brantschen: Ein Gebet ohne entsprechendes christliches Handeln macht keinen Sinn. Handeln und Beten bedingen einander.

*Bruno Brantschen, Jg. 1965, ist Jesuit. Er lebt und arbeitet im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn, Zentrum für Spiritualität, Dialog und Verantwortung (www.lassalle-haus.org). Dort leitet er die Bereiche Exerzitien und Langzeit-Gäste. Zudem ist er Teil des Teams «Seelsorge für Seelsorgende im Bistum Basel» (www.seelsorgende.ch).

Beten lässt einen Stille erleben. | © Wolfgang Holz
19. März 2024 | 12:00
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