Michael Wüstenberg, emeritierter Bischof von Aliwal (Südafrika), am 26. April 2021 an Bord des Rettungsschiffs Sea Eye 4.
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Bischof Michael Wüstenberg: Desmond Tutu ist jetzt in «Jerusalema»

Michael Wüstenberg (67) ist emeritierter Bischof von Aliwal in Südafrika. Zum Tod von Desmond Tutu sagt er: «Mir bleibt sein Bild von der Regenbogen-Nation, in der alle Menschen Platz haben.» Auch Europa müsse den Rassismus bekämpfen.

Raphael Rauch

Haben Sie Desmond Tutu persönlich gekannt?

Michael Wüstenberg*: Ich habe ihn 2014 persönlich getroffen bei der Beerdigung des katholischen Erzbischofs von Kapstadt. Es war eine sehr angenehme Begegnung. Auch wenn die katholische Kirche in Südafrika zahlenmässig grösser ist als die anglikanische: Desmond Tutu war die grosse Stimme der Christen in Südafrika. Minderheitenstatus steht Grösse nicht entgegen.

Desmond Tutu 2015 in Lübeck
Desmond Tutu 2015 in Lübeck

Seit 2020 verbinden viele mit Südafrika den Zulu-Kultsong «Jerusalema», der das himmlische Jerusalem besingt. Ist Desmond Tutu jetzt in «Jerusalema»?

Wüstenberg: Daran hat er fest geglaubt. Und ich bin überzeugt: Desmond Tutu ist jetzt dort, wovon der Song «Jerusalema» handelt. «Jerusalema» hält die Hoffnung wach, die Grundlage seines Lebens war.

Wenn Sie an Desmond Tutu denken: Woran denken Sie?

Wüstenberg: Ich denke an einen Mann, der im Leben lauter Demütigungen erfahren hat – und trotzdem mit Humor durchs Leben gegangen ist. Mit Nelson Mandela ist er die zweite grosse Ikone im Anti-Apartheid-Kampf. Und er hat dafür den Friedensnobelpreis schon vor Mandela bekommen. 

Desmond Tutu, früherer Erzbischof von Kapstadt, bei einem Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey in London.
Desmond Tutu, früherer Erzbischof von Kapstadt, bei einem Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey in London.

Desmond Tutu war später mit der Politik Südafrikas sehr unzufrieden. Hat die Revolution ihre Ideale verraten?

Wüstenberg: Wie so oft im Leben entfernen sich Ideale und Wirklichkeit. Ich weiss noch genau, wie einige Jahre vor der Beerdigung von Nelson Mandela im Jahr 2013 der Friedensnobelpreisträger Dalai Lama Desmond Tutu besuchen wollte. Doch die südafrikanische Regierung gab ihm kein Visum – aus Rücksicht auf China. Das hat sich dann 2014 wiederholt: 2014 sollte es ein Treffen der Friedensnobelpreisträger in Kapstadt geben. Vom Freiheitsdrang der Anti-Apartheids-Bewegung war da nicht mehr viel zu sehen. Wie viele Länder hat auch Südafrika mit Korruption, internen Machtkämpfen und noch dazu mit extremer Ungleichverteilung des Wohlstands zu tun. 

«Wir müssen daran arbeiten: an den Regenbogen-Nationen Europas, ja einer Regenbogen-Welt und dabei die weltweite Ungleichverteilung der Güter umorganisieren.»

Wofür wird Desmond Tutu in Erinnerung bleiben?

Wüstenberg: Mir bleibt sein Bild von der «rainbow nation», der Regenbogen-Nation, in der alle Menschen Platz haben – egal, welche Hautfarbe sie haben. Mir gefällt das Regenbogenbild auch deshalb gut, weil schwarz und weiss ja nicht Teil des Regenbogens ist und die Klischees über Hautfarben so auch etwas konterkariert werden. Wir in Europa dürfen hier ruhig selbstkritischer werden: Auch bei uns gibt es Rassismus, mal offener, mal subtiler. Wir müssen daran arbeiten: an den Regenbogen-Nationen Europas, ja einer Regenbogen-Welt und dabei die weltweite Ungleichverteilung der Güter umorganisieren.

«Versöhnung ist nicht etwas, was im Beichtstuhl eingesperrt werden kann.»

Wie stark war Desmond Tutus Versöhnungsgedanken christlich motiviert? Oder war das auch Pragmatismus: Ohne Versöhnung kommen wir nicht weiter…?

Wüstenberg: Desmond Tutu war ein interreligiös offener Mensch. Als anglikanischer Christ und Erzbischof hat er zutiefst an die Kraft der Versöhnung aus einem tiefen christlichen Glauben heraus geglaubt. Die Versöhnung gehört ja fundamental zum Christentum. Und das ist eine Anregung, die uns Desmond Tutu auch heute noch gibt: Welche Charismen haben wir als Kirche, um Wunden zu heilen? Versöhnung ist nicht etwas, was im Beichtstuhl eingesperrt werden kann. Sondern etwas, an dem wir als Christen in der Gesellschaft intensiv mitarbeiten sollten.

Michael Wüstenberg, ehemaliger Bischof von Aliwal in Südafrika
Michael Wüstenberg, ehemaliger Bischof von Aliwal in Südafrika

Nun sind viele Nachrufe auf Desmond Tutu zu lesen. Gibt es einen Aspekt, der Sie besonders berührt?

Wüstenberg: Desmond Tutu war an Krebs erkrankt – und hat trotzdem über viele Jahre nach seiner Emeritierung so Vieles geleistet. Das ist ein mutmachendes Zeichen für alle Menschen, die vor einer schweren Erkrankung stehen. Eine Diagnose ist nicht das Ende, sondern danach ist oft noch ganz viel möglich.

«Desmond Tutus Leben steht für eine radikale Solidarität und eine radikale Parteinahme.»

Welche Botschaft von Desmond Tutu fürs Hier und Jetzt erscheint Ihnen besonders wichtig?

Wüstenberg: Es gibt keine Neutralität. Wer neutral ist, entscheidet sich für die Seite der Unterdrücker. Wenn man diesen, seinen Satz mit Leben füllt, dann ist kein Wegschauen mehr möglich, auch kein Abwägen. Desmond Tutus Leben steht für eine radikale Solidarität und eine radikale Parteinahme. Aber stets ergänzt mit dem Willen zum Dialog und zur Versöhnung.

Hans-Küng-Gedenkfeier in Luzern.
Hans-Küng-Gedenkfeier in Luzern.

2021 sind zwei Theologen von Weltruf gestorben: Hans Küng und Desmond Tutu. Wer sind für Sie die neuen, lebenden Theologen von Weltruf?

Wüstenberg: Ich habe vor ein paar Jahren in Brasilien eine ähnliche Frage gestellt: Wer sind die neuen, strahlenden Sterne am theologischen Himmel? Ich sehe viele gründliche Arbeiter, aber wenige leuchtende Ikonen. Desmond Tutu war so eine leuchtende Ikone. Er teilt mit Hans Küng jetzt das Sterbejahr. Die beiden haben übrigens nicht nur das Anliegen des Weltethos geteilt. Desmond Tutu hatte sich ähnlich wie Hans Küng für das selbstbestimmte Sterben ausgesprochen – davon dann aber meines Wissens ebenfalls nicht Gebrauch gemacht. Auch das ist ein Bereich, wo wir noch kreativer und besser nachdenken sollten. Konkret denke ich an Palliative Care als Hilfe, Menschlichkeit und Menschenwürde im Sterben zu erreichen.

* Michael Wüstenberg (67) ist emeritierter Bischof von Aliwal, Südafrika, und lebt im Bistum Hildesheim/Deutschland. Michael Wüstenberg ist öfter in der Schweiz, etwa in den Dekanaten Ob- und Nidwalden. Im September firmte er in Zürich.


Michael Wüstenberg, emeritierter Bischof von Aliwal (Südafrika), am 26. April 2021 an Bord des Rettungsschiffs Sea Eye 4. | © KNA
27. Dezember 2021 | 11:24
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