Birgit Weiler
Theologie konkret

Birgit Weiler: «In Amazonien spenden Frauen Sakramente – delegiert vom Bischof»

In Amazonien herrscht akuter Priestermangel. Frauen spenden sogar Sakramente mit Erlaubnis der Bischöfe, sagt die Ordensfrau Birgit Weiler (64). Ein Gespräch über Eucharistiefeiern ohne Tabernakel, die Krankensalbung – eine neue Theologie der Sakramente.

Raphael Rauch und Annalena Müller

Viele haben gehofft, dass Papst Franziskus nach der Amazonas-Synode 2019 den Pflichtzölibat abschafft. Sind Sie vom Papst enttäuscht?

Birgit Weiler*: Der erste Schritt ist gemacht. Es war uns von vornherein klar, dass das Konzpet der «viri probati» noch weiterer Ausarbeitung bedarf. Aber die Frage der «viri probati», also der erfahrenen verheirateten Männer, die zu Priestern geweiht werden können, ist in Amazonien drängender als anderenorts.

Indigene zu Beginn der Amazonas-Bischofssynode im Vatikan, Oktober 2019.
Indigene zu Beginn der Amazonas-Bischofssynode im Vatikan, Oktober 2019.

Warum?

Weiler: Im Amazonasgebiet herrscht ein grosser Priestermangel. In vielen Gemeinden kommt nur einmal im Jahr ein Priester. Gemeindemitglieder übernehmen seelsorgerische Aufgaben und leiten Wortgottesdienste. Gleichzeitig müssen wir vermeiden, eine Zweiklassenpriesterschaft zu schaffen. Sozusagen Priester mit einer vollen Ausbildung und daneben Priester mit einer geringeren Ausbildung.

«Es darf keine Schmalspur-Priesterschaft geben.»

Es darf keine Schmalspur-Priesterschaft geben. Bewährte Familienväter, die jetzt schon Gemeinden koordinieren, müssen kultursensibel entsprechend theologisch ausgebildet werden.

Was wäre so schlimm an einer Zweiklassenpriesterschaft? Beim ständigen Diakonat gibt es die in Deutschland – da können auch Männer ohne Abitur Diakon werden.

Weiler: Gerade in Amazonien rekrutieren sich die «viri probati» aus den Reihen der Indigenen. Aufgrund der langen geschichtlichen Erfahrung der Ausgrenzung muss man hier besonders kultursensibel sein. Es darf keinesfalls der Eindruck entstehen, dass indigene Priester mindere oder weniger fähige Priester oder nicht voll ausgebildete Priester sind.

Teilnehmer an der Amazonas-Bischofssynode 2019.
Teilnehmer an der Amazonas-Bischofssynode 2019.

Was bedeutet Priestermangel in Amazonien ganz konkret? Haben die Gemeinden einen grossen Vorrat an konsekrierten Hostien für Wort-Gottes-Feiern?

Weiler: Nein. Aufgrund der klimatischen Bedingungen geht das im Amazonasgebiet nicht. Hostien halten sich nicht lange. Daher können in vielen Gemeinden nur Wortgottesdienste ohne Kommunionfeier gehalten werden. Entsprechend gibt es in dieser Region auch eine andere Einstellung zur Kommunion. 

Wie äussert sich das?

Weiler: Ein sehr engagierter Priester aus Brasilien sagte mir, dass er in viele seiner Gemeinden nur einmal im Jahr kommt. Und wenn er dann vor Ort ist und die Eucharistie feiert, geht keiner zur Kommunion. Das ist ja auch verständlich. Denn die Leute dort haben sich arrangieren müssen, um ihren Glauben ohne Eucharistie zu leben, die aufgrund des Priestermangels nur sehr selten gefeiert werden kann.

«Viele Gemeinden können nur einmal im Jahr überhaupt die Eucharistie feiern.»

Man darf sich da keine Illusionen machen. Wenn nur ein Priester die Eucharistie feiern kann und wenn es nur sehr wenige Priester gibt, die ein grosses Gebiet abdecken müssen, bedeutet das: Viele Gemeinden können nur einmal im Jahr überhaupt die Eucharistie feiern. Dann verliert die Eucharistie für diese Gemeinden an Bedeutung.

Eucharistie-Feier


PHOTO LAURENT CROTTET 
PROTEGE PAR UN COPYRIGHT - TOUTE REPRODUCTION INTERDITE SANS ACCORD ECRIT
Eucharistie-Feier PHOTO LAURENT CROTTET PROTEGE PAR UN COPYRIGHT - TOUTE REPRODUCTION INTERDITE SANS ACCORD ECRIT

In welcher Sprache werden die Gottesdienste gehalten?

Weiler: Wenn Indigene einem Wortgottesdienst vorstehen, dann wird er in der indigenen Sprache gefeiert.  Im Amazonasgebiet gibt es über 400 verschiedene indigene Völker mit unterschiedlichen Sprachen.

Der Priestermangel betrifft ja nicht nur die Eucharistie. Haben Sie schon mal ein Sakrament gespendet?

Weiler: Nein, das habe ich nicht. An den Orten, an denen ich tätig war, gab es entweder Ordensfrauen, die ständig vor Ort waren, oder einen Priester, der zumindest periodisch Sakramente spenden konnte.

Birgit Weiler referiert an der Fachtagung Sakramentalität und Kirche, September 2022
Birgit Weiler referiert an der Fachtagung Sakramentalität und Kirche, September 2022

Kennen Sie Frauen, die Sakramente spenden?

Weiler: Ja, ich kenne Frauen, die es tun. Und zwar ganz offiziell. Sie sind zum Beispiel vom örtlichen Bischof delegiert, die Taufe zu spenden. Das ist in Amazonien nichts Ungewöhnliches. Gerade in indigenen Gemeinschaften sind Leben und Gesundheit oftmals stärker bedroht als in urbanen Zentren. Daher wollen Eltern, dass ihr Kind bald nach der Geburt getauft wird. Daher delegiert der Bischof diese Aufgaben an Ordensschwestern.

Krankensalbung durch einen Priester
Krankensalbung durch einen Priester

Gilt das auch für die Krankensalbung?

Weiler: Ja, auch die Krankensalbung. Das hängt natürlich vom jeweiligen Ortsbischof ab. Es gibt im Amazonasgebiet Bischöfe, die aus pastoralen Gründen den Standpunkt haben, dass es gar nicht anders geht: weil es einfach keine Priester im Umkreis vieler Gemeinden gibt. Und wenn Menschen schwer krank und Ordensschwestern vor Ort sind, dann spenden diese das Sakrament, um das die Kranken und ihre Familien bitten. Die Ordensschwestern tun das mit der Erlaubnis des jeweiligen Bischofs.

«Viele Bischöfe bitten Ordensleute, ein einfaches Ritual zu vollziehen.»

Verstehen wir Sie richtig: Wir sprechen nicht von einem Ritual am Krankenbett, sondern von einer sakramentalen Krankensalbung?

Weiler: Ja. Allerdings ist das keine weit verbreitete Praxis. Es gibt auch viele Bischöfe im Amazonasgebiet, für die die beschriebene pastorale Situation aufgrund des Priestermangels  sehr schmerzlich ist. Sie bitten aber die Ordensschwestern und Ordensbrüder sowie andere pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darum, mit den Kranken und ihren Angehörigen zu beten und ein einfaches Ritual zu vollziehen, aber keine Krankensalbung zu spenden.

Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador
Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador

Frauenrechte dank Männermangel?

Weiler: Ja. Man kann den Priestermangel auch als eine Möglichkeit sehen, das Sakramentsverständnis neu zu überdenken. Dabei sollte man aber auch kulturelle Aspekte berücksichtigen.

Zum Beispiel?

Weiler: Die Beichte, zum Beispiel. Für die Menschen in den ländlichen und städtischen Teilen Amazoniens ist die Beziehung zwischen Menschen etwas ganz Wichtiges in ihrem Leben und ein zentraler Wert. Es geht um Beziehung im Sinne einer Präsenz, die kontinuierlich gegeben ist. Eine Beziehung, die geprägt ist von menschlicher Nähe und von Teilnahme am Leben des Anderen.

«In Amazonien wünschen sich schwer Kranke das Sakrament der Beichte von einer Ordensfrau, zu der sie eine Beziehung haben.»

In Amazonien sind es vor allem Ordensfrauen, die Trägerinnen solcher Beziehungen sind. Und wenn Menschen schwer erkranken und wissen, dass ihre Krankheit zum Tode führen wird, wünschen sie sich das Sakrament der Beichte eben von der Ordensfrau, zu der sie eine Beziehung haben – und nicht von einem fremden Priester. Falls man überhaupt einen findet, der kommen kann.

So bedroht wie nie zuvor: Luftaufnahme des Amazonasregenwaldes, rund 400 Kilometer südlich von Manaus.
So bedroht wie nie zuvor: Luftaufnahme des Amazonasregenwaldes, rund 400 Kilometer südlich von Manaus.

Laut Kirchenrecht kann nicht einmal ein Diakon, erst recht nicht eine Frau von der Sünde lossprechen.

Weiler: Das ist eine ganz schmerzliche Erfahrung für die Menschen, die wir begleiten. Der Umgang mit dem Lebensende ist ja auch kulturell geprägt. Um in Frieden gehen zu können, spricht man sich in Amazonien mit der Familie aus. Versöhnung ist zentral. Das ist eine sehr schöne menschliche Praxis in den indigenen Kulturen. Und da hat eigentlich das Sakrament der Beichte seinen Platz und ist von den Menschen gewünscht.

«Formal können wir die Lossprechung nicht erteilen – viele Ordensschwester empfinden dies als sehr schmerzlich.»

Denn in der Beichte wird ausgesprochen, was das Herz belastet. Es wird um Vergebung gebeten und diese wird dann im Namen Gottes erteilt. Als Ordensschwestern hören wir den Menschen zu und beten mit ihnen um Gottes Vergebung. Es sind de facto Beichten, die wir da hören. Aber formal können wir die Lossprechung nicht erteilen. Viele Ordensschwestern im Amazonasgebiet – und ich schliesse mich ihnen an – empfinden dies als sehr schmerzlich und nicht richtig. Es braucht dringend ein grundlegendes Überdenken unserer Theologie der Sakramente.

Ordensfrauen im Gottesdienst – in der Klosterkirche Einsiedeln
Ordensfrauen im Gottesdienst – in der Klosterkirche Einsiedeln

Ein zentraler Kritikpunkt an der Kirche ist der Klerikalismus. Wie sehen Sie das Problem in den Kirchen Lateinamerikas?

Weiler: Mir macht Mut, was im Moment an Aufbruch geschieht. Kirchliche Vertreter auf allen Ebenen sind sich bewusst, dass ein Umkehrprozess geschehen muss. Es gibt ein klares Bewusstsein, dass wir klerikale Strukturen aufbrechen und uns auf den Weg hin zu einer synodalen Kirche machen müssen, die bereit ist, an die gesellschaftlichen und existentiellen Peripherien zu gehen.

«Wir haben alle dieselbe Taufwürde. Deshalb muss es möglich sein, Frauen zum Priesteramt zuzulassen.»

Die grössere Verantwortung von Ordensfrauen ist in Amazonien aus der Not des Priestermangels geboren. Welche theologischen Gründe sprechen dafür, Frauen zum Priesteramt zuzulassen?

Weiler: Das ergibt sich zum einen aus unserer Würde als Menschen. Männer und Frauen sind in gleicher Weise Ebenbild Gottes. Wenn man es biblisch sagen möchte, dann sind wir alle Christusträgerinnen und Christusträger. Wir haben alle dieselbe Taufwürde. Da ist nicht für den einen mehr und für die andere weniger. Deshalb muss es meines Erachtens möglich sein, dass Frauen, die sich dazu berufen fühlen, zum Priesteramt zugelassen werden.

Heutige Verkünderin: Dorothee Becker leitet eine Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus, Riehen.
Heutige Verkünderin: Dorothee Becker leitet eine Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus, Riehen.

Wann fällt der Pflichtzölibat? Und wann gibt’s Priesterinnen? In fünf Jahren? In zehn Jahren?

Weiler: Ich hoffe, dass die «viri probati» in spätestens zehn Jahren kommen werden. Beim Frauenpriesteramt befürchte ich, dass es etwas länger dauern wird. Aber die Kirche muss sich unbedingt der Dringlichkeit dieser Frage bewusstwerden. Weltweit absolvieren immer mehr Frauen universitäre Ausbildungen. Wenn junge Frauen immer wieder die Erfahrung machen, dass sie in der Kirche klein gehalten werden, dann werden sie Abstand von der Kirche nehmen. Dieser Prozess wird nicht umkehrbar sein. In Peru und in ganz Lateinamerika ist dies an vielen Universitäten und Fachhochschulen bereits zu beobachten. 

«Der Frauendiakonat könnte eigentlich sehr bald kommen.»

Wann kommt der Frauendiakonat?

Weiler: Der könnte eigentlich sehr bald kommen. Da gibt es dann keine theologischen Hürden, wenn man den Diakonat als ein eigenständiges Amt in der Kirche versteht, durch das Christus in der Kirche vergegenwärtigt wird in seinem Dienst am Leben der Menschen. Der Diakonat hat seine eigene theologische Bedeutung und Würde, es sollte nicht nur als Vorstufe zum Priesteramt verstanden werden. Der Diakonat ist ein Dienstamt. Hier wird Christus, der Dienende, präsent gesetzt durch Männer und Frauen, die diesen Dienst an der Gemeinde vollziehen. Es gibt keine theologische Notwendigkeit, den Diakonat an das Priesteramt zu binden.

* Die Ordensschwester Birgit Weiler (64) lehrt an der Päpstlichen Katholischen Universität (PUCP) in Lima. Sie wirkt unter anderem als theologische Beraterin des Zentrums für pastorale Programme und Netzwerke (CEPRAP) des Bischofsrates von Lateinamerika und der Karibik (CELAM) und ist Mitglied der Gruppe von Theologinnen und Theologen des CELAM. Sie war beim Synodalen Weg in Frankfurt zu Gast und arbeitet mit dem Schweizer Hilfswerk Fastenaktion zusammen.


Birgit Weiler | © KNA
16. April 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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