Stève Bobillier ruft zu Solidarität auch mit Ungeimpften auf.
Schweiz

Bioethiker Bobillier: «Ungeimpfte verurteilen hilft nicht, die Pandemie zu beenden»

Der Bioethiker der Schweizer Bischöfe, Stève Bobillier, unterstützt den Aufruf der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik. Diese hat Ende Dezember vor der Stigmatisierung von ungeimpften Personen gewarnt. Anstatt zu verurteilen, gelte es, solidarisch und tolerant zu sein, so Bobillier.

Raphaël Zbinden, cath.ch / Adaption: Regula Pfeifer

Sie sind christlicher Bioethiker. Finden Sie, die Stigmatisierung von ungeimpften Personen müsse vermieden werden?

Stève Bobillier*: Das ist ein wesentlicher Punkt. Um eine Pandemie zu überwinden, ist es notwendig, die Solidarität in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ich unterstütze den Aufruf der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik voll und ganz. Er bringt den Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen und an die Solidarität aller in ein gutes Gleichgewicht. Die Stigmatisierung von ungeimpften Menschen ist heute in der Tat sehr stark. Diese haben weder Zugang zu Kultur noch zu Freizeitaktivitäten und sind von einem Grossteil des sozialen Lebens ausgeschlossen.

Bei Krank
Bei Krank

«Nur gemeinsam können wir dieses Virus besiegen.»

Diese Menschen zu verurteilen wird nicht helfen, die Pandemie zu beenden. Im Gegenteil, es verschärft die soziale Kluft in einer bereits sehr komplexen Situation. Nur gemeinsam können wir dieses Virus besiegen, nicht in wertenden Haltungen, sondern durch gegenseitige Hilfe und Respekt gegenüber jeder einzelnen Hygienemassnahme.

Unterstützt die christliche Ethik diese Toleranz gegenüber der Meinung anderer?

Bobillier: Wer von uns kann behaupten, ein absolutes Verständnis der Wahrheit zu besitzen? Für das Christentum ist es klar, dass es eine einzige Wahrheit gibt, die Gott ist. Aber wer kann schon von sich behaupten, dass er Gott hier auf Erden vollkommen versteht? Es gibt einen Unterschied zwischen der Wahrheit und unserem Verständnis der Wahrheit, das immer anfällig für Zweifel ist.

«Toleranz ist ein grundlegendes christliches Prinzip.»

Toleranz ist ein grundlegendes christliches Prinzip. Christus hat den Aposteln oft gesagt, dass sie toleranter sein sollen, auch gegenüber denen, die ihm nicht folgen (Markusevangelium 9,38–48). Diese Toleranz bedeutet nicht, dass es keine absolute Wahrheit gibt oder dass alle Meinungen gleichwertig sind, sondern dass man offen für andere sein muss und bereit, seine eigene Wahrnehmung zu erweitern.

Diese Toleranz ist auch für jede Demokratie notwendig. Sie ist eine notwendige politische Tugend, um nicht zu misstrauischen und feindseligen Verhaltensweisen verleitet zu werden. Denn diese werden ihrerseits gefährlich für das Zusammenleben.

Zuwendung ist zentral bei der Pflege von alten und kranken Menschen.
Zuwendung ist zentral bei der Pflege von alten und kranken Menschen.

«Wir müssen in der Pflege den Wert der menschlichen Beziehungen wiederfinden.»

Aber hilft man mit dieser Toleranz wirklich den Menschen, die unter der Krise leiden, insbesondere dem Pflegepersonal?

Bobillier: Die Schweizer Verantwortlichen für klinische Ethik betonen im Aufruf zu Recht auch die Notwendigkeit, das Pflegepersonal zu unterstützen, das an seine Grenzen stösst. Seit Jahrzehnten schlagen Pflegekräfte in Krankenhäusern, in Pflegeheimen, in der Psychologie und in der häuslichen Pflege Alarm. Wir müssen uns von der Logik der Rentabilität der Pflege lösen und den Wert der menschlichen Beziehungen wiederfinden. Das wird sowohl den Patienten als auch den Pflegekräften helfen. Eric Bonvin, Direktor der Walliser Krankenhäuser, bringt es wunderbar auf den Punkt, indem er die einfache Tatsache betont, dass man sich die Zeit nehmen muss, mit dem Patienten zusammenzusitzen und ihm zu begegnen.

«Hygienemassnahmen sind immer unerlässlich, unabhängig vom Impfstatus».

Sind ungeimpfte Personen nicht schuldig, «fahrlässig» das Leben anderer Menschen zu riskieren?

Bobillier: Wir müssen mit diesen extremen Vergleichen aufhören, die die Gesellschaft auf vereinfachende Weise polarisieren und zerreissen. Einerseits gibt es immer noch Menschen, die sich nicht impfen lassen können. Und vor allem ist niemand für seine Erkrankung verantwortlich. Andererseits verhalten sich heute zu viele geimpfte Personen unverantwortlich. Es muss daran erinnert werden, dass Hygienemassnahmen immer unerlässlich sind, unabhängig vom Impfstatus.

Corona-Vorschrift: Hände desinfizieren beim Betreten der Kathedrale Chur
Corona-Vorschrift: Hände desinfizieren beim Betreten der Kathedrale Chur

«Alle Länder des Nordens sind für den Tod von Tausenden von Menschen auf der Welt verantwortlich.»

Wenn man dennoch in diesen Diskurs einsteigen will, dann sind alle Länder des Nordens für den Tod von Tausenden von Menschen auf der Welt verantwortlich. Afrika hat zum Beispiel kaum Zugang zu Impfstoffen, weil die reichen Länder die Dosen für sich reserviert haben. So sind derzeit weniger als 10 Prozent der afrikanischen Bevölkerung geimpft. In Niger liegt die Impfrate gar bei 0,1 Prozent. Unter diesen Bedingungen entwickeln sich die Varianten weiter. Wiederum ist die Frage der Solidarität entscheidend, aber sie ist global.

«Jede ethische Vorschrift der Kirche ist eine Empfehlung und kein Zwang.»

Papst Franziskus beschrieb die Impfung als einen «Akt der Liebe». Riskiert man mit solchen Äusserungen nicht die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, zu beschuldigen?

Bobillier: Jede ethische Vorschrift der Kirche ist eine Empfehlung, ein Aufruf, eine Orientierung und kein Zwang. Jeder Gläubige ist immer aufgerufen, seine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen abzuwägen. Selbstverständlich ist Impfen ein Akt der Brüderlichkeit. Die Einhaltung der Hygienemassnahmen ist eine andere.

In jedem Fall besteht Liebe nicht darin, das Verhalten eines anderen zu beurteilen, sondern darin, den anderen trotz seiner Unterschiede zu akzeptieren. In Römer 14,3 heisst es dazu: «Wer bist du, dass du den Diener eines anderen richtest?

Kann die «Freiheit», die von den Impfgegnern oft beschworen wird, aus christlicher Sicht gerechtfertigt werden?

Bobillier: Der Philosoph Isaiah Berlin unterscheidet zwei Formen der politischen Freiheit, die in jeder Gesellschaft miteinander im Widerspruch stehen: Zum einen gibt es die «negative Freiheit», die in der Abwesenheit von Fesseln besteht. Ich bin frei, wenn mich niemand daran hindert, etwas zu tun. In diesem Sinne dient die Politik nur dazu, die individuelle Freiheit zu schützen und zu fördern.

Gefühl von Freiheit: Frau auf dem Balkon
Gefühl von Freiheit: Frau auf dem Balkon

Die «positive Freiheit» wiederum besteht in der Fähigkeit, die eigenen Entscheidungen und Rechte zu verwirklichen. Diese können jedoch nur durch die Gemeinschaft voll verwirklicht werden. Rechte sind nur dann wirklich, wenn sie in einem Verhältnis der Verpflichtung gegenüber anderen stehen. Es kann keine Rechte ohne Pflichten geben.

«Einerseits muss der Staat die Entwicklung der individuellen Freiheiten ermöglichen, andererseits ist er notwendig, um die Beziehungen zu anderen zu regeln».

Diese beiden Auffassungen von Freiheit legen somit die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum fest. Einerseits soll der Staat die Entwicklung individueller Freiheiten ermöglichen, andererseits ist er notwendig, um die Beziehungen zu anderen zu regeln.

Kann der Staat also aus ethischer Sicht Impfungen vorschreiben?

Bobillier: Im Fall der moralischen Verpflichtung, sich impfen zu lassen, dringt der Staat im Namen der positiven Freiheit in den privaten Raum ein, um die Pandemie zu bekämpfen. Es ist jedoch verständlich, dass einige Personen im Namen der negativen Freiheit der Ansicht sind, dass medizinische Handlungen eine individuelle Entscheidung sind, in die sich der Staat nicht einmischen sollte.

Um es anders auszudrücken: Die öffentliche Gesundheit erfordert starke Handlungsmittel, die im Falle einer Pandemie zum Wohle der Allgemeinheit gerechtfertigt sind. Aber die Medizin bleibt eine individuelle Handlung, also eine freie persönliche Entscheidung, auch wenn sie in jedem Fall Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft hat.

*Stève Bobillier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bioethikkommission der Schweizer Bischofskonferenz.

Stève Bobillier ruft zu Solidarität auch mit Ungeimpften auf. | © Grégory Roth
8. Januar 2022 | 17:38
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