Ein buntes Gemisch: Patchwork
Schweiz

Basteln sich junge Schweizer Muslime auch ihre eigene Patchwork-Religiosität?

Zürich, 4.2.15 (kath.ch) Stellen sich junge Muslime in der Schweiz so wie viele ihrer christlichen Altersgenossen eine eigene Patchwork-Religion zusammen? Experten und Imame winken ab: So etwas wie einen «Patchwork-Islam» gibt es nicht. Es bestehe jedoch für junge Muslime, die religiös auf der Suche sind, die Gefahr, dass sie sich extremistische Positionen aneignen. Ein schulischer Religionsunterricht für Muslime würde dieser Gefahr vorbeugen.

Georges Scherrer

Der Begriff «Patchwork-Religiosität» ist alt. 1993 hielten Alfred Dubach und Roland Campiche in der religionssoziologische Studie «Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz» fest, Religion sei für viele Menschen zwar wichtig. Viele würden aber «immer weniger einer von den kirchlichen Institutionen und deren Autoritäten festgelegten Ordnung» folgen. Aus Versatzstücken verschiedener Religionen würden sie sich eine eigene Religion schaffen. Die Studie prägte für diese Entwicklung den Begriff «Patchwork-Religiosität». Das gilt nicht nur für die Schweiz. Gemäss dem Deutschlandfunk pflegen mehr als ein Fünftel der Deutschen eine Patchwork-Religiosität.

Verschiedene angefragte muslimische Gemeinschaften in der Schweiz lehnen diesen Begriff für den Islam ab. Ein selbst zusammengeschustertes Religionsmodell sei mit dem Islam nicht vereinbar und für einen Muslim nicht denkbar, sagt Imam Mustafa Memeti vom Muslimischen Verein Bern. Einen «Patchwork- Islam» könne sich nur jemand «zusammenreimen, wenn er Alleingänger ist und keinen Kontakt zu anderen Muslimen hat», erklärt Önder Günes von der Schweizerischen Islamischen Gemeinschaft in Regensdorf ZH. In der Moschee werde der Weg der «goldenen Mitte» begangen. Die Jugend werde über den Moscheebesuch, Sportanlässe oder Picknicks erreicht.

Der Imam der Lega dei Musulmani Ticino, Samir Radouan Jelassi, sieht das Problem mit der Jugend, die den Moscheen fern bleiben, etwas differenzierter. Dieses Phänomen sei religionsübergreifend, erklärt Jelassi gegenüber kath.ch. In den vergangenen Jahren beobachteten die Imame jedoch, dass in Europa vermehrt junge Muslime ihren Glauben praktizieren, dies vor allem während des Ramadans. Auch bedeutende Feste des Islams und das Freitagsgebet mobilisieren vermehrt die Jugend. Ein Fakt bleibe: «Ein bedeutender Teil der Jugend hat sich von den Moscheen verabschiedet.»

Kontaktsuche zur Jugend fördern

Diese Entwicklung beobachtet Jelassi mit Sorge. Ausserhalb der Moscheen sei die Jugend möglicherweise «mit einer unkontrollierten Lektüre der islamischen Schriften» konfrontiert. Auf dem Internet würden sie auf «völlig wirre Interpretationen des Islam oder extremistische Auslegungen des Korans» stossen.

Über Personen, welche die Moschee besuchen, bemühe sich die Lega an die Jugend zu gelangen und sie zu informieren. «Es geht darum, dass wir sie vor Interpretationen schützen, die nicht korrekt sind.» Junge Muslime dürfen nicht in eine religiöse «Leere» fallen, die anschliessend durch Extremisten gefüllt wird. Junge Menschen seien oft unsicher und empfänglich für verschiedenste Botschaften. Die «zuverlässigen Quellen» müssen der Jugend darum nahe gebracht werden. In der Schweiz fehle jedoch ein schulischer Religionsunterricht für Muslime.

Eine «Patchwork-Religiosität» kenne der Islam nicht, erklärt auch Jelassi. Der Islam sei vielmehr eine «Lebensauffassung», die breiten Raum für Aktivitäten offen lasse. Viele Muslime würden ihren Glauben praktizieren, indem sie sich einer Vereinigung anschliessen und dort «muslimisch» leben. Dazu gehörten Sportvereine, soziale Einrichtungen, Jugendvereinigungen oder kulturelle Aktivitäten.

Die Lega bemühe sich, «beispielhaft für die übrige Schweiz» die muslimische Jugend zu mobilisieren. So werde die Zusammenarbeit mit christlichen Pfadfindern gefördert. Während der Woche der Religionen wurden Jugendliche angehalten, den Kontakt mit anderen Religionen zu suchen. Im vergangenen Jahr wurde im Tessin eine Dialogplattform zwischen Muslimen und Christen geschaffen, in welche auch jungen Menschen einbezogen werden sollen.

Muslimische Religionspraxis in Zahlen

Von jenen Menschen, die auf dem Papier Muslim sind, sind bei weitem nicht alle religiös aktiv, sagt auch Andreas Tunger-Zanetti, der das Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern koordiniert und der Forschungsgruppe zum Islam in der Schweiz (GRIS) angehört. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Sechstel der in der Schweiz lebenden 400›000 Muslime versuchen, ihre Religion «einigermassen umfassend zu leben». Zwei Drittel der Muslime könne man mit jenen Christen vergleichen, die ihre Religionspraxis auf Weihnachten, Ostern und Begräbnisse beschränken. Rund zehn Prozent dürften areligiös sein, wüssten bisweilen nicht einmal, ob sie Sunniten oder Schiiten sind.

Rund 20›000 Muslime im Alter bis 25 Jahre dürften regelmässig eine der 240 Moscheen in der Schweiz besuchen. Man müsse beachten, dass die allermeisten Jugendgruppen von Moscheen aufgebaut und geführt werden. Wie stark die Verbindung zur Moscheeleitung und das «religiöse Lernen» seien, variiere sehr stark. Spass und Spiel stehe im Vordergrund, einige muslimische Regeln wie das Alkoholverbot würden beachtet.

Anpassung statt Patchwork

Unter Muslimen sehe er noch keine Patchwork-Religion, sagt der Luzerner Forscher. «Islamische Frömmigkeit in der Schweiz vermischt sich bisher nicht mit Elementen aus anderen Religionen, passt sich aber sehr wohl den lokalen Gegebenheiten an.» Der Islam hätte sich nie weltweit verbreitet, «wenn er nicht diese Anpassungsfähigkeit bewiesen hätte».

Angesprochen auf einen «Patchwork-Islam» winkt auch die Basler Koordinatorin für Religionsfragen und Dozentin für Angewandte Ethnologie, Lilo Roost Vischer, ab. In einer organisierten Form gebe es eine derartige Entwicklung auch im sozial und religiös stark durchmischten Basel nicht. Aufgrund von einzelnen Erfahrungsberichten wisse man, dass bei Mischehen die Partner im Interesse der Kinder auf die religiösen Feste des Anderen Rücksicht nehmen.

Gesicherte Aussagen seien wegen der fehlenden Untersuchungen nicht möglich. Auch junge Musliminnen und Muslime würden ihr Leben pragmatisch den Gegebenheiten anpassen und eigene Wege gehen. Wenn sie unabhängig von ihrem familiären Hintergrund nach mehr Frömmigkeit suchen, bestehe die Gefahr, dass sie sich (virtuellen) Gruppen mit einer streng religiösen Autorität anschliessen, die klare Normen vorgeben und keinen Spielraum für Experimente offen lassen, wie dies in einer «Patchwork-Religiosität» praktiziert werde. (gs)

 

Ein buntes Gemisch: Patchwork | © Juergen Jotzo / pixelio.de
4. Februar 2015 | 15:33
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