Gottesdienstbesucher mit und ohne Rollstuhl
Schweiz

Barrierefrei zu Gott: «Es gibt noch viel nachzurüsten in den Kirchen»

Seit 20 Jahren gilt das Behindertengleichstellungsgesetz in der Schweiz, seit 10 Jahren auch die UNO-Behindertenrechtskonvention. Und doch liegt noch so manches im Argen bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Alltag. Das betrifft nicht zuletzt den hindernisfreien Zugang von Kirchen, bei dem es vielerorts hapert. Ab heute wollen nationale Aktionstage die Behindertenrechte in den Fokus rücken.

Wolfgang Holz

«Möglichst ohne Hilfe auskommen – das möchte man als Rollstuhlfahrerin viel mehr als andere Menschen», versichert Marianne H. Für die 69-Jährige sind Treppen oft ein Hindernis. «Jede Treppe wird mir zur unüberwindlichen Barriere. Selbst mit bereitwilligen Helferinnen und Helfern ist mir oft nicht geholfen: Um mit einem Menschen im Rollstuhl Treppen zu überwinden, brauchen die Helfenden Sicherheit und Kraft – und ich starke Nerven», sagt sie.

Gottesdienst für Menschen mit Behinderung
Gottesdienst für Menschen mit Behinderung

Gastfreundliche Pfarrei

Auch an Kirchen sind Treppen oft noch grosse Hindernisse für Menschen für Behinderungen. Dabei ist gerade eine hindernisfreie Kirche wichtig, um es behinderten Personen zu ermöglichen, an Gottesdiensten teilzunehmen. Nach dem Motto: eine gastfreundliche Pfarrei ist eine hindernisfreie Pfarrei – wie die Behindertenseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich in einem Leitfaden betonte.

Vorbildlich in Baar in der St. Martinskirche

Zwar haben viele Kirchen, wie zum Beispiel die St. Martinskirche in Baar im Kanton Zug, einen vorbildlichen hindernisfreien Zugang zum Gotteshaus. Türen am Seitenportal der Kirche lassen sich für Rollstuhlfahrende per Knopfdruck automatisch öffnen. Das Portal ist breit genug für Rollstühle, und der Zugang zum Portal selbst ist glatt asphaltiert.

Die Türen des Seitenportals an der Baarer St. Martinskirche öffnen sich per Knopfdruck automatisch.
Die Türen des Seitenportals an der Baarer St. Martinskirche öffnen sich per Knopfdruck automatisch.

Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Ein Pfarrer kann noch so viele Einladungen an behinderte Menschen aussprechen: Wenn Zuhörende wegen ihrer Schwerhörigkeit diese nicht verstehen können, sind sie wirkungslos. Oder ist die Tür zum Gesprächsraum zu knapp bemessen, können Rollstuhlfahrende womöglich nicht an einem Bibelkreis teilnehmen. Auch ein sehgeschädigtes Gemeindemitglied wird Schwierigkeiten haben, sich eingeladen zu fühlen, wenn die Beleuchtung in der Kirche so schlecht ist, dass die Gesichter der Banknachbarn nicht erkennbar sind.   

«Niemand Zugang verwehren»

Dabei müssen die Einrichtungen einer Kirchgemeinde, das heisst, die Kirchen, Kirchgemeindehäuser, Pfarreisäle und Pfarrämter laut dem Leitfaden für Hindernisfreies Bauen der Katholischen Kirche im Kanton Zürich «von allen Menschen, ob jung oder alt, behindert oder nicht, gesund oder krank, aufgesucht werden können. Niemandem darf aus baulichen Gründen der Zugang an diesen Einrichtungen und deren Nutzung verwehrt werden.»

Kirchen gehören auch dazu

Das Behindertengleichstellungsgesetz, das am 1. Januar 2004 in Kraft gesetzt wurde, bringt es unmissverständlich auf den Punkt. Unter Artikel 2, Absatz 2, ist zu lesen: «Eine Benachteiligung beim Zugang zu einer Baute, einer Anlage, einer Wohnung oder einer Einrichtung (…) liegt vor, wenn der Zugang für Behinderte aus baulichen oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist.» Davon sind Kirchen als öffentliche Gebäude nicht ausgenommen.

Alle auf einen Blick: Die 44 Parlamentarier und Parlamentarierinnen an der ersten Behindertssession in Bern
Alle auf einen Blick: Die 44 Parlamentarier und Parlamentarierinnen an der ersten Behindertssession in Bern

Das Problem ist: Um diese Gleichstellung zu erreichen, sind bauliche Massnahmen notwendig – wobei laut dem Leitfaden 2007 hindernisfreies Bauen kaum Mehrkosten verursacht. Nachträgliche Korrekturen können dagegen sehr kostspielig sein. Es werden deshalb «kleinere Anpassungen» empfohlen, die oft sehr wirksam und mit wenig Aufwand möglich seien. Das fängt beispielsweise bei Handläufen an Geländern an.

Fünf Prozent des Gebäudeversicherungswerts

Bis 2011 sollten laut Auskunft der Behindertenkonferenz Zürich grundsätzlich in Anpassungen in Sachen Hindernisfreiheit an Gebäuden im Umfang von fünf Prozent des Gebäudeversicherungswerts Gelder investiert worden sein. Zwischen 2019 und 2024 seien 25 kirchliche Projekte registriert worden. Da scheint es also noch Luft nach oben zu geben.

Werner Ruch sammelte jahrelang Geld für einen hindernisfreien Einsiedler Klosterplatz.
Werner Ruch sammelte jahrelang Geld für einen hindernisfreien Einsiedler Klosterplatz.

Wie sieht es heute tatsächlich mit hindernisfreien Kirchen in der Schweiz aus? Der jahrelange Streit um einen komplett hindernisfreien Klosterplatz in Einsiedeln hat bekanntlich gezeigt, dass es die gesetzliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in ihrer faktischen Umsetzung immer noch schwer hat.

Streit um barrierefreien Klosterplatz in Einsiedeln

Zwar wurden in Einsiedeln – und jüngst letztlich vom Bundesgericht bestätigt – nachträgliche Verbesserungen für Gehbehinderte planerisch umgesetzt. Doch einen komplett hindernisfreien Klosterplatz hat die Denkmalpflege nicht goutiert.

«Der Synodalrat im Kanton Zürich spricht ausdrücklich finanzielle Unterstützung solcher Projekte zu, wenn eine Kirchgemeinde bauliche Massnahmen durchführen muss oder möchte», versicherte Igor Lukenda, Leiter der Fachstelle Behindertenseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, gegenüber kath.ch. «In der kantonalen Kirche Zürich wird die Barrierefreiheit tatsächlich grossgeschrieben.»

Der Zürcher Behindertenseelsorger Igor Lukenda, links im Bild.
Der Zürcher Behindertenseelsorger Igor Lukenda, links im Bild.

«Wenn man barrierefrei sagt, muss das auch von A bis Z so sein.»

Igor Lukenda, Fachstelle Behindertenseelsorge

Es gehe immer grundsätzlich um die Bereitschaft, solche Massnahmen zu initiieren. Lukenda: «Wenn man barrierefrei sagt, muss das auch von A bis Z so sein. Doch wir wissen, dass es manchmal sehr schwer umzusetzen ist.»

Ein Dom für alle

Szenenwechsel nach Arlesheim im Kanton Baselland. Dort ist es Architekt Joseph Schmid gelungen, den repräsentativen, denkmalgeschützten Barockbau des Doms hindernisfrei umzubauen. Zu einem Dom für alle.

Der Dom in Arlesheim
Der Dom in Arlesheim

Nach der Innenrestauration des Doms (2013 – 2015) hat er ab 2017 im Rahmen «eines kleinstmöglichen Eingriffs», wie er gegenüber kath.ch betont, im Verlauf von drei Jahren Massnahmen baulicher Art vollzogen, damit Menschen mit Behinderung den Dom ebenfalls barrierefrei besuchen können. Zuvor war schon eine induktive Höranlage installiert worden.

Seitenportal mit Sensoren

Konkret hat er das Seitenportal so umgebaut, dass die Türen sich über Sensoren automatisch öffnen lassen. Es gibt einen asphaltierten Zugang auf dem ansonsten gepflästerten Domplatz zum Seitenzugang, und es wurde ein Parkplatz installiert. «Das hat unterm Strich rund 200’000 Franken gekostet», so Schmid. Viel Geld für die katholische Kirchgemeinde in Arlesheim.

Architekt Joseph Schmid
Architekt Joseph Schmid

Oft zu wenig Geld

Das ist aus der Sicht von Architekt Joseph Schmid auch einer der Hauptgründe, warum anderswo solche hindernisfreien Umbauten in Kirchen oft scheitern. «Die Kirchen haben immer weniger Kirchensteuer zahlende Mitglieder, und es fehlen deshalb die finanziellen Mittel für solche behindertengerechte Sanierungen.»

Die Sache mit der Denkmalpflege

Der andere Grund, der behindertengerechte Umbauten erschwere, sei die Denkmalpflege. «Diese will eben zumeist unter allen Umständen historische Kirchenbauten in ihrer Substanz erhalten.» Deshalb müsse man zuerst das Vertrauen der Denkmalpflege gewinnen, um solche Projekte realisieren zu können. Der Handlungsbedarf sei indes dringend. Schmid: «Denn es gibt in den Kirchen noch viel nachzurüsten in Sachen Hindernisfreiheit.»

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*Heute, am 15. Mai, beginnen die Nationalen Aktionstage Behindertenrechte 2024. Der Kanton Zürich und die Behindertenkonferenz Kanton Zürich haben zur Eröffnungsfeier in Zürich eingeladen. Die Abschlussfeier findet am 15. Juni mit Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider im Kanton Genf statt.

Das Programm sowie sämtliche weiteren Informationen zu den Aktionstagen sind unter zukunft-inklusion.ch zu finden. Der Pastoralraum Zug Walchwil macht aktiv mit und lädt alle Menschen, mit und ohne Beeinträchtigung, zu einem speziell inklusiven Gottesdienst ein. Er findet am Sonntag, 9. Juni, um 10 Uhr, in der Kirche St. Oswald in Zug statt.


Gottesdienstbesucher mit und ohne Rollstuhl | © Oliver Sittel
15. Mai 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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