Glasfenster mit der Darstellung von Allerheiligen.
Radiopredigt

Andrea Meier: Türen öffnen und Wunder entdecken

«Wunderliges» und «Wundersames» im Leben der Heiligen, das ist für Andrea Meier «eine Tür in ein Zimmer, das lange Zeit verschlossen und verstaubt war». In ihrer Radiopredigt zu Neujahr berichtet sie nicht nur wie 24 Heilige an den Jasstisch kommen, sondern auch davon wie Menschen sich freiwillig in eine Zelle einschliessen lassen, um offen zu werden für Gott.

Andrea Meier*

Es ist ja typisch für uns Christinnen, dass wir uns mit Geschichten beschäftigen, die für Aussenstehende, aber auch für uns selber manchmal seltsam erscheinen. Wir arbeiten uns ab an Texten, die davon erzählen, wie Trompeten Städte zum Einsturz bringen, Riesen von kleinen Jungen besiegt werden und Jungfrauen und Alte auf wundersame Weise Mütter werden.

Katholisches Zusatzangebot

Als katholische Menschen haben wir dazu noch ein beträchtliches «Zusatzangebot»: Den grossen Schatz der Heiligenlegenden. Es sind Geschichten quer durch Zeiten, Länder und Lebensumstände, die von einzigartigen Persönlichkeiten erzählen. Menschen, die in ihrem Leben Gott in ganz besonderer Weise nahegekommen sind. In diesen Geschichten finden sich radikale Lebensentwürfe, heftige Lebenswenden, brutale Leidenswege. Persönlichkeiten mit einer Ausstrahlung, die Menschen während ihres Lebens und darüber hinaus begeistert und inspiriert hat. Es sind wundersame, manchmal auch ziemlich «wunderlige» Menschen, die Wunder erlebt und ermöglicht haben.

Von den Heiligen lernen

Vielleicht wundern sie sich wie ich darauf komme, gerade heute am Neujahrstag auf diese wilden Frommen zu sprechen zu kommen. Vor knapp einem Monat hat eine entfernte Bekannte auf Social Media einen Beitrag zum Barbaratag gepostet. Ein karger Zweig erschien auf meinem Handy und die Aufforderung, von der Heiligen Barbara zu lernen. «Nein sagen. Einen Zweig ins Warme tragen. Niemandem gehorchen. Wunder tun.» So ähnlich las ich es an jenem 4. Dezember und es fühlte sich an, als hätte jemand eine Tür einen Spalt weit geöffnet. Eine Tür in ein Zimmer, das lange lang Zeit verschlossen und verstaubt war. Ich erinnerte mich, wie einmal jemand zu Beginn einer kirchlichen Sitzung von Katharina von Siena sprach – nicht, weil es besonders gut passte, sondern weil ihr Jahrestag war. Und mir fiel ein, wie ich an jenem Tag diese Katharina googelte und eintauchte in das faszinierende Leben dieser Mystikerin, die im 14. Jahrhundert in Italien wirkte.

Die Heilige Katharina von Siena gehört zu den bekanntesten Mystikerinnen des Mittelalters.
Die Heilige Katharina von Siena gehört zu den bekanntesten Mystikerinnen des Mittelalters.

Neuentdeckungen Tag für Tag

Heute ist der erste Tag in einem neuen Jahr und Tag für Tag gibt es im Kalender ungewöhnliche Lebensgeschichten zu entdecken. Ich spiele mit dem Gedanken ihnen heuer ein bisschen nachzugehen … Denn scheinbar von allenn Seite laden mich gescheite und engagierte Menschen ein, neu auf die Heiligen zu blicken.

Die heilige Wiborada

Zum Beispiel auf die heilige Wiborada. Sie war im Jahr 1047 die erste Frau, die von einem Papst heiliggesprochen wurde – und sie war eine Thurgauerin. Eine Frau, die einen extrem ungewöhnlichen Weg wählte, Gott und den Menschen nahe zu sein. Sie liess sich einmauern und lebte als «Inklusin» in einer kleinen Hütte an der Aussenwand der Kirche St. Mangen. Ein Fenster ging zur Kirche – eins nach draussen. In der Broschüre zum Wiborada-Projekt 2022 heisst es: «Für Wiborada von St. Gallen bedeutet freiwilliges Eingeschlossensein, ihren Geist auf Gott und die Mitmenschen auszurichten. Sie ist nie allein und lebt nie einfach für sich. Durch Verzicht auf äussere Bewegungsfreiheit regt sie an, Selbstverständliches zu hinterfragen. Ihr Eingeschlossensein bedeutet nicht, Lebensenergie abzuwürgen oder den Kontakt zu Menschen aufzugeben, im Gegenteil. Die zwei Fenster ihrer Zelle öffnen sich zu Gott und zur Welt.»

Heilige Wiborada
Heilige Wiborada

Einschliessen lassen, um sich zu öffnen

Im Rahmen dieses Wiborada-Projekts wurde die Klause neu errichtet und Freiwillige liessen sich auf Zeit einschliessen. Ganz konkret liessen sie sich inspirieren und mitnehmen in eine spirituelle Praxis aus einer ganz anderen Zeit, einer ganz anderen Welt. Als ich von diesem Projekt las schien es mir, als hätten Menschen eben jenes alte verstaubte Zimmer betreten – angelockt vom Licht, das durch den Türspalt fiel – wer weiss? Vielleicht haben sie etwas gefunden, was es hier und heute nicht einfach so zu finden gibt.

Inkluse Christian Kind bekommt Besuch am offenen Fenster.
Inkluse Christian Kind bekommt Besuch am offenen Fenster.

Lebendige Ikonen des Glaubens

Ähnliches erlebe ich, wenn ich die Ikonen von Kelly Latimore betrachte. Ikonen – jene heiligen Bilder, die nicht nur Heilige abbilden, sondern gemäss der orthodoxen Spiritualität auch selber einen Teil jeder Heiligkeit in sich tragen. Ich selber besitze eine ganz kleine klappbare Ikone der Maria «Theotokos»: der «Gottesgebärerin». Meine Grossmutter hat sie mir einst aus Einsiedeln mitbracht. Sicher hat sie sie dort an einem jener runden Kioske gekauft, wo allerlei religiöse Mitbringsel zu haben sind. Das kleine goldene Bildchen begleitete mich seither. Es ist verbunden mit Erinnerungen daran, wie ich das «Ave Maria» von ihre lernte, wie wir Kerzen entzündet haben und Kreuzwege gegangen sind. Aber auch damit, wie schwer es meine Grossmutter oft hatte und wie schwer das auch für andere war. Ich klappe die kleinen Deckelchen auf und denke daran, wie der Glaube meine Oma tragen konnte, aber manchmal auch gar nichts half. Die kleine Ikone aus Holz steht für ein lebendige Ikone meines Glaubens: Sie steht für meine Grossmutter und für all die andern Frauen und Männer, die dieses «Katholisch sein» bis zu mir gebracht haben auf eine Weise, in der ich zuhause sein kann.

Traditionen ins Hier und Heute übersetzen

Dank dieser Menschen kann ich mich zurechtfinden in einem Glauben, der geprägt ist von Geschichten und Traditionen, die weit zurückgehen in alte Zeiten. Dank ihnen habe ich aber auch erlebt und erfahren, wie sich die alten Texte und Zeichen anschmiegen können ans Hier und Heute, wie sie kreativ und neu erzählt und gelebt werden und so bedeutend bleiben im Jetzt. Dabei helfen mir Menschen wie der zeitgenössische Künstler Kelly Latimore. Er greift die Praxis der Ikonen-Malerei auf und interpretiert sie neu, indem er vielfältige Gottesbilder ins Spiel bringt, klassische Szenen mit aktuellen Themen verbindet oder Personen ehrt, die traditionell nicht als Heilige gelten. In seinen Bildern bekommen Menschen, die in der Gesellschaft um Anerkennung ringen, einen Heiligenschein. Und diese glänzenden Flächen strahlen auf ihre Gesichter zurück. Sie heben diese Menschen heraus und erinnern mich daran, dass Heilige überall zu finden ist.

Ikone der Muttergottes "Salus populi Romani", "Heil des römischen Volkes", am 15. November 2022 in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom.
Ikone der Muttergottes "Salus populi Romani", "Heil des römischen Volkes", am 15. November 2022 in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom.

Von Wiborada bis Oscar Romero

Menschen, die herausragen mit ihrem Mut, ihrer Konsequenz, ihrem Talent zu begeistern. Menschen, die bereit sind, radikal zu lieben und mit brennendem Herzen leben. Ihrer Spur durch die Zeiten und Welten zu folgen von der Heiligen Wiborada bis zum heiligen Oscar Romero ist eine überaus faszinierende Reise.

Der Heiligenjass

Ein Kollege von mir hier in Bern hat sich auf eine solche Reise durch die Schweiz begeben. Er hat ein Heiligenjass entwickelt. Von Bruder Klaus bis zum St. Mauritius, von Regula bis Maria Bernarda finden in dem Spiel 24 Heilige einen Platz mitten im Leben – in der Beiz, im Alterszentrum, im Pfarreiheim – am Sonntagnachmittag auf dem Familientisch. Ich finde, das passt wunderbar. Im Zusammenspiel der Menschen: beim Fluchen, Lachen, Gewinnen und Verlieren ereignen sich die Wunder – oder eben nicht.

Ursulinen in Brig am Jassen
Ursulinen in Brig am Jassen

Grosse und kleine Wunder

Die kleinen Wunder der Begegnung – das grosse Wunder der Versöhnung. Die kleinen Wunder des Mitgefühls – das grosse Wunder der Heilung. Die kleinen Wunder der Nähe – das grosse Wunder der Liebe. Von Wiborada erzählt man, dass sie St. Gallen durch ein Wunder vor einem brutalen Überfall bewahrt hat und dass auf ihrem Grab im Winter grüner Fenchel wuchs … Das kleine Wunder des Wachstums – das grosse Wunder Rettung.

Auf Schatzsuche im neuen Jahr

Ich bin gespannt was mich erwartet hinter der alten Tür, die sich gerade einen Spalt breit öffnet. Sicher gibt es dort auch alten Gerümpel. Komische Geschichten, vielleicht auch Gewalt – aber wie es so ist in den alten Häusern: Wer geduldig und liebevoll den Staub abwischt, das Vorgefundene dreht und wendet, findet so manchen Schatz. Ich bin gespannt aufs neue Jahr – ich hoffe, sie sind es auch: Auf die kleinen und grossen Wunder, auf die Wendungen und Begegnungen. Möge Gottes Segen uns begleiten. Amen.

* Andrea Meier ist römisch-katholische Theologin und arbeitet in Bern.

Die SRF-Radiopredigten sind eine Koproduktion des Katholischen Medienzentrums, der Reformierten Medien und SRF2 Kultur.

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Glasfenster mit der Darstellung von Allerheiligen. | © Pixabay/geralt, Pixabay License
1. Januar 2024 | 10:00
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