Szenenbild aus dem Film "Der Verdingbub" von Markus Imboden
Schweiz

«Justitia et Pax» begrüsst Verdingkinder-Entscheid

Freiburg i.Ü., 27.4.16 (kath.ch) Der Nationalrat will Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen finanziell entschädigen und dafür 300 Millionen Franken zur Verfügung stellen. Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär der bischöflichen Kommission Justitia et Pax, freut sich über den deutlichen Entscheid vom Mittwoch, 27. April: «Ich finde es ein starkes Zeichen, dass die Schweiz hinsteht und sagt: Wir nehmen das begangene Unrecht zum Anlass, uns mit den Opfern, die heute noch unter uns leben, solidarisch zu erklären.»

Barbara Ludwig

Wolfgang Bürgstein hält es für wichtig zu betonen, dass mit einer Annahme des bundesrätlichen Gegenvorschlages zur Wiedergutmachungsinitiative – der Entscheid des Ständerates dazu steht noch aus – die ganze Gesellschaft, alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz, an diesem Akt der Solidarität beteiligt sind. Einschliesslich die katholische Kirche und ihre Mitglieder.

Opfern kann schneller geholfen werden

Für den Theologen fällt ein «grosser Vorteil» des Gegenvorschlags ins Gewicht: Im Gegensatz zur Volksinitiative kann dieser relativ schnell umgesetzt werden. «Erste Auszahlungen können meines Wissens ab Mitte 2017 getätigt werden, sofern die entsprechende Gesetzesgrundlage besteht.» Dies sei angesichts des oft hohen Alters der Opfer wichtig.

Zudem könnten mit der Zustimmung zum Gegenentwurf politische Diskussionen vermieden werden, die unter Umständen für «die Betroffenen und für uns alle unschön» sein könnten, so der Generalsekretär. Damit spielt Bürgstein auf den langwierigen politischen Prozess an, den eine Initiative mit sich bringt. «Es besteht das Risiko, dass man vielleicht plötzlich anfängt, Unrecht zu verrechnen und das Geschehene zu relativieren.»

Mit der Vorlage des Bundesrates bekämen die Opfer insgesamt 200 Millionen Franken weniger als in der Initiative vorgesehen. Es wäre möglich, dass der Unterschied gar nicht so gravierend sei, wenn man die Zahl der Betroffenen anders ansetze, findet Bürgstein. Denn: «Der Bundesrat geht mit 12’000 bis 15’000 Personen von einer niedrigeren Zahl von Opfern aus. Im Endeffekt könnte daraus resultieren, dass die Betroffenen gleich viel Geld bekämen wie bei der Initiative.»

«Katholische Kirche hat sich der Situation gestellt»

Auch in Heimen mit katholischer Trägerschaft wurden Kinder misshandelt oder sexuell missbraucht. – Tut die Kirche genug für die Opfer? «Niemand kann sich anmassen zu sagen, es wird genug gemacht. Man könnte immer noch mehr machen. Aber das Geschehene lässt sich nicht ungeschehen machen. Auch nicht mit Geld, und wäre es noch so viel.» Wenn also niemand genug mache, gelte dies auch für die Kirche, stellt Bürgstein fest. «Aber die katholische Kirche hat sich der Situation gestellt.» Sie habe versucht, signifikante Beiträge an den Soforthilfefonds zu leisten.

So hätten Schweizer Katholiken 2015 auf einen Aufruf der Schweizer Bischöfe hin knapp 300’000 Franken gespendet. Die Katholische Kirche im Kanton Zürich hat kürzlich entschieden, 250’000 Franken in den Soforthilfefonds einzuzahlen. Bürgstein weiss auch, dass der Verein Kloster Fischingen bereits sehr früh ebenfalls 250’000 Franken zur Verfügung stellte.

Der Justitia et Pax-Chef macht weiter darauf aufmerksam, dass teilweise auch Geld in die Aufarbeitung der Geschichte geflossen ist. Etwa als die Ingenbohler Schwestern eine Studie zur Erziehungsanstalt Rathausen ausarbeiten liessen, die 2013 publiziert werden konnte.

Aufarbeitung – «die grosse Chance»

In der ganzen Thematik rund um Wiedergutmachung droht ein Aspekt unterzugehen, findet Bürgstein: «In der Öffentlichkeit redet man nur vom Geld, aber es gehört auch die Aufarbeitung dazu.» Hier biete der Gegenvorschlag die «grosse Chance, dass man ein vollständigeres Bild bekommt von dem, was damals passiert ist». Der Bundesrat habe eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt, die bereits aktiv sei. Zudem soll ein nationales Forschungsprogramm die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung in Angriff nehmen. «Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen werden die Verflechtung der Kirchen in das System der Zwangsmassnahmen, die Rolle der Pfarrer und der Ordensgemeinschaften reflektieren müssen.»

Die Aufarbeitung hat auch für die Opfer eine grosse Bedeutung, findet Bürgstein: «Wenn sie die Zusammenhänge erkennen können, die über ihre persönliche Geschichte hinausgehen, wird für sie sichtbar gemacht: Wir tragen keine Schuld an dem Unrecht, das uns geschehen ist.»

Der Generalsekretär von Justitia et Pax vertritt die Schweizer Bischofskonferenz am Runden Tisch, der Opfer und verantwortliche Institutionen zusammenbringt.

Der Entscheid des Nationalrates für den Gegenvorschlag des Bundesrates zur Wiedergutmachungsinitiative fiel mit 143 zu 26 Stimmen bei 13 Enthaltungen. (bal)

Szenenbild aus dem Film «Der Verdingbub» von Markus Imboden | © Ascot Elite
27. April 2016 | 18:00
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