Die Mädchen in den Schulen der Afghanistanhilfe wollten Ärztin, Ingenieurin werden – und jetzt?
Schweiz

Afghanistanhelfer: «Schlimm, wenn die Träume der Mädchen zerstört werden»

Afghanistan lebt unter grosser Angst. Viele befürchten Racheaktionen der Taliban. Das bekommt Martin Hongler per Telefon täglich mit. Er ist in der Afghanistanhilfe aktiv, einem Schaffhauser Hilfswerk. Hongler macht sich Sorgen um die Freiheit der Mädchen und jungen Frauen.

Regula Pfeifer

Sie werden überrannt von Evakuierungs-Anfragen. Wer wendet sich an Ihr Hilfswerk?

Martin Hongler, Vizepräsident Afghanistanhilfe
Martin Hongler, Vizepräsident Afghanistanhilfe
Martin Hongler (65): Vor allem junge Menschen wollen aus Afghanistan ausreisen. Darunter sind junge Frauen und Männer, die in unseren Waisenhäusern lebten und danach in Kabul studieren gingen. Auch Frauen, die sich für Frauenrechte eingesetzt haben und ehemalige Regierungsmitarbeitende bitten um Ausreisehilfe. Sie sehen keine Zukunft für sich in Afghanistan.

«Für die meisten Afghanen ist die Situation aussichtslos.»

Können Sie helfen?

Hongler: Leider nein. Wir haben aktuell keine Möglichkeit, sie zu unterstützen. Wir sind beim Bund vorstellig geworden, aber ohne Erfolg. Es gibt für diese Menschen aktuell nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie schaffen es doch noch irgendwie, auf einen der Hilfsflüge westlicher Mächte und Entwicklungsorganisationen zu gelangen. Oder sie flüchten über die grüne Grenze. Es gibt eine Bewegung in Richtung Pakistan. Für die meisten aber ist die Situation aussichtslos, sie sitzen in der Falle.

«Viele fragen sich: Folgt jetzt eine grosse Racheaktion der Taliban?»

Wie ist denn aktuell die Situation in Afghanistan?

Hongler: Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme die Situation insofern beruhigt, als es keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gibt im Land – ausser im Pandschir-Tal, da formiert sich Widerstand. Aber es ist eine äusserst gespannte Ruhe. Unsicherheit und Angst sind gross. Viele fragen sich: Folgt jetzt eine grosse Racheaktion der Taliban?

Gibt es Hinweise für Racheaktionen?

Hongler: Es jagen sich die Gerüchte, die sich aber nicht verifizieren lassen. Es heisst, Frauen seien geschlagen worden, etwa weil sie nicht richtig angezogen waren. Die Taliban hätten junge Frauen mitgenommen, um sie mit ihren Kämpfern zwangsmässig zu verheiraten. Es habe eine öffentliche Hinrichtung in Kandahar gegeben.

Afghanische Mädchen – hier noch frei unterwegs.
Afghanische Mädchen – hier noch frei unterwegs.

Sie wissen nicht, ob das stimmt…

Hongler: Nein. Wir kennen niemanden persönlich, der oder die aktuell misshandelt worden wäre. Und Videos im Netz, die das zeigen sollen, lassen sich nicht verifizieren. Der Leiter einer unserer Partnerorganisationen ist aber seit einer Woche nicht mehr auf die Strasse gegangen.

«Eine junge Frau sagte: Sie fühle sich, als ob ihre Füsse abgeschnitten wären.»

Wie geht es den Frauen?

Hongler: Für sie ist die Situation schlimm. Sie können nur noch in männlicher Begleitung und mit einer Burka an die Öffentlichkeit. Eine junge Frau, die wir kennen, hat das pointiert beschrieben: Sie fühle sich, als ob ihre Füsse abgeschnitten wären. Um die Frauen machen wir uns Sorgen. Wir haben darauf reagiert.

Besuch der Afghanistanhilfe-Gründerin Vreni Frauenfelder im Waisenhaus in Bamiyan
Besuch der Afghanistanhilfe-Gründerin Vreni Frauenfelder im Waisenhaus in Bamiyan

Schützen Sie die Frauen?

Hongler: Wir haben versucht, die Mädchen ab zwölf Jahren aus unseren Waisenhäusern zu nehmen und sie bei Verwandten auf dem Land unterzubringen. Wir hoffen, dass sie so besser vor einem allfälligen Zugriff der Taliban geschützt sind.

«Unser Waisenhaus ist exponiert. Die Taliban könnten es als vom Westen finanziertes Institut betrachten.»

Sie denken, im Waisenhaus ist es gefährlicher als bei den Verwandten?

Hongler: Das ist möglich. Das Waisenhaus ist exponiert. Die Taliban könnten es als ein vom Westen finanziertes Institut betrachten und dagegen vorgehen. Dies, obwohl es ja privat finanziert ist.

Haben Sie Schweizer in Afghanistan?

Hongler: Nein. Wir arbeiten seit Beginn der Afghanistanhilfe 1988 mit lokalen Hilfswerken zusammen. Drei lokale Hilfswerke setzen aktuell unsere Projekte um. Wir besuchen sie jährlich. Und wir sind in diesen Tagen in ständigem telefonischen Kontakt. Gerade gestern habe ich mit dem Leiter des Waisenhauses in Bamiyan telefoniert.

Gesundheitszentrum der Afghanistanhilfe: Kann weiter betrieben werden.
Gesundheitszentrum der Afghanistanhilfe: Kann weiter betrieben werden.

Was haben Sie erfahren?

Hongler: Er hat mich über die Sicherheitslage und die Massnahmen zum Schutz der Kinder informiert. Am Schluss konnte ich die Buben und Mädchen sehen, die gerade in den Speisesaal kamen. Ein Mädchen sagte: «Don’t worry, we are safe» (Machen Sie sich keine Sorge, wir sind sicher).

«Unser Leute haben die Zusicherung der neuen Machthaber, dass sie weitermachen können.»

Wie geht es weiter mit Ihrer Hilfe?

Hongler: Ich gehe davon aus, dass wir weiterarbeiten können. Wir sind in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Bildung und Nothilfe tätig. Unsere Leute vor Ort haben Kontakt aufgenommen mit den neuen lokalen Machthabern und von ihnen die Zusicherung erhalten, dass sie das Waisenhaus und die Gesundheitseinrichtungen weiter betreiben können. Auch unser Spital in Jaghori läuft weiter.

«Auch verletzte Taliban haben wir bisher aufgenommen.»

Wie erklären Sie sich diese Zusagen?

Hongler: Wir haben uns nie politisch positioniert. Wir leisten medizinische und humanitäre Hilfe. Auch verletzte Taliban haben wir bisher aufgenommen. Das Waisenhaus in Jaghori hingegen haben wir evakuiert. Denn es gab Kämpfe dort in der Nähe. Die Kinder sind nun in unserem Waisenhaus in Bamiyan untergebracht.

«Wenn unsere Schulen eine fundamentalistische islamische Lehre vermitteln, hören wir auf mit Schulbau.»

 Und wie steht es um die Schulen?

Hongler: Wir haben in den letzten Jahren einige Schulhäuser gebaut, insbesondere für Mädchen. Das geschah immer in Absprache mit den lokalen Behörden. Denn betrieben werden die Schulen dann vom Staat. Das würden wir gern so weiterführen. Mit einer Einschränkung: Wenn künftig an diesen Schulen eine fundamentalistische islamische Lehre vermittelt wird, hören wir auf mit dem Bau von Schulen. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt. Das wäre vor allem für die Mädchen schlimm.

Eine Mädchenschule, erbaut von der Afghanistanhilfe. Der Verein hat seinen Sitz in Schaffhausen.
Eine Mädchenschule, erbaut von der Afghanistanhilfe. Der Verein hat seinen Sitz in Schaffhausen.

Inwiefern trifft es die Mädchen besonders?

Hongler: Die Mädchen sind wissbegierig. Es war herzerfrischend, sie bei unseren Besuchen zu sehen. Sie erzählten, sie wollten Ärztin, Lehrerin, Politikerin oder Ingenieurin werden. Jetzt damit rechnen zu müssen, dass all diese Träume zerstört werden, ist schlimm.

Verstärken Sie aktuell Ihre Hilfe?

Hongler: Die reine Lebensmittelversorgung haben wir aufgestockt. Vor allem die innerhalb von Afghanistan Vertriebenen brauchen solche Hilfe. Etwa jene, die in Kabul in Parks leben. Wir verteilen Essenspakete mit Zucker, Mehl, Reis, Bohnen, Öl und Tee. Unser Spendenaufruf hat erfreulich gut gewirkt. Nun warten wir darauf, die Gelder überweisen zu können. Wir verteilen zudem seit Jahren Schafe an bedürftige Bauernfamilien und alleinstehende Mütter; das läuft weiter.

«Wir sind konfessionell, politisch und ethnisch neutral.»

Arbeitet Ihr Hilfswerk mit Kirchen oder Religionsgemeinschaften zusammen?

Hongler: Nein. Wir sind konfessionell, politisch und ethnisch neutral.

«Die Hazara leben einen moderaten Islam. Extrem ist nur der Kern der Taliban.»

Welche Rolle spielt Religion in Afghanistan?

Hongler: Wir sind schwerpunktmässig im Gebiet der Ethnie der Hazara tätig. Diese leben ihre schiitische Religion als moderaten Islam. Das Gebet, die Fastenzeit und die islamischen Festtage werden eingehalten. Ansonsten ist Religion nicht sehr präsent im Alltag. Die von Paschtunen bewohnten Regionen sind sicher stärker religiös geprägt. Wir konnten unsere Projekte im Paschtunengebiet aber in den letzten Jahren nicht mehr persönlich inspizieren, denn es gab oft Überfälle. Extrem ist nur der Kern der Taliban. Sie leben eine strenge Trennung der Geschlechter und eine strikte Auslegung von Strafe und Sühne.

Die Mädchen in den Schulen der Afghanistanhilfe wollten Ärztin, Ingenieurin werden – und jetzt?
26. August 2021 | 11:28
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Ex-Unternehmer in Hilfswerksleitung

Der ehemalige Schaffhauser Unternehmer Martin Hongler ist Vizepräsident der Afghanistanhilfe. Der ehemalige Mitinhaber der Pharmahandelsfirma Ewopharma AG in Schaffhausen ging mit 62 Jahren frühzeitig in Pension. Die Afghanistanhilfe mit Sitz in Schaffhausen wurde 1988 durch Vreni Frauenfelder gegründet, die 2018 verstorben ist. Heute wird das Hilfswerk von eine Gruppe Freiwilligen geleitet. Fast alle ausser Hongler sind zwischen 25 und 40 Jahre alt. Präsident ist Michael Kunz. (rp) Mehr Informationen zum Hilfswerk unter www.afghanistanhilfe.org