Adrian Loretan
Theologie konkret

Adrian Loretan: «Menschenrechte sind Instrument gegen Machtmissbrauch in der Kirche»

Menschenrechte sind eine Herausforderung, sagt der Kirchenrechtler Adrian Loretan. Denn solange das geltende Recht der Kirche von «einem schrankenlosen Vorbehalt zu Gunsten der kirchlichen Autorität ausgeht, kann von Grundrechten in einem strikten Sinn in der Kirche nicht die Rede sein». Ohne garantierte Menschenrechte können sich die Opfer sexueller Gewalt nicht gegen Amtspersonen wehren.

Marianne Bolt

1942 betonte Papst Pius XII. die Würde der menschlichen Person und die daraus folgenden Rechte. Wie kam es dazu?

Adrian Loretan: An der Wannseekonferenz bei Berlin wurde 1942 beschlossen, alle 11 Millionen Juden in Europa zu vernichten. Dagegen argumentierte Pius XII. mit «unverlierbaren Menschenrechten». Er ging davon aus, dass jede Person eine Würde und daraus folgende subjektive Rechte besitzt.

«Schon 1949 entsteht eine erste Verfassung, die aus dem Würdebegriff die Grundrechte ableitete.»

1948 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die AEMR, die ebenfalls mit der Würde des Menschen und den daraus folgenden Menschenrechten argumentiert. Gibt es hier einen Zusammenhang?

Loretan: Die Argumentation von Pius XII. (1942) fand drei Jahre später Eingang in die UNO Charta (1945), in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949).

Das weltliche Recht hat noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend vom Naturrecht der Kirchenrechtswissenschaft gelernt, so der jüdische Harvard Professor Samuel Moyn (Christian Human Rights; 2015). Wie ist das möglich?

Loretan: Schon 1949 entsteht eine erste Verfassung, die aus dem Würdebegriff die Grundrechte ableitete: das deutsche Grundgesetz. Es waren u. a. christliche Politiker, die den Menschenrechten zuerst in Europas Verfassungen eine Heimstatt gaben, so der Rechtshistoriker Samuel Moyn.

Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.
Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.

Menschenwürde und Menschenrechte fanden auch Einzug in Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Welche Punkte waren neu für die katholische Kirche?

Loretan: Papst Johannes XXIII. beginnt mitten im Konzil 1963 menschenrechtlich zu argumentieren in der Enzyklika Pacem in terris. Dieser Wende schliesst sich das Konzil an. Es gibt «in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von […], sozialer Stellung oder Geschlecht» (LG 32). Das Konzil verneint so ausdrücklich jede Theorie oder Praxis, «die zwischen Mensch und Mensch […] bezüglich der Menschenwürde und der daraus fliessenden Rechte einen Unterschied macht […], weil dies dem Geist Christi widerspricht» (NA 5). Daher muss «jede Form einer Diskriminierung […] beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht» (GS 29). Dies ist keine soziologische Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eine normative Sicht, wie es sein müsste, aber nicht ist.

Karl Rahner (l.) und Joseph Ratzinger an der Vollversammlung der Synode der deutschen Bistümer 1972.
Karl Rahner (l.) und Joseph Ratzinger an der Vollversammlung der Synode der deutschen Bistümer 1972.

Hat die katholische Kirche Schritte unternommen, damit die Rechte, die sie während des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert hat, auch eingefordert werden können?

Loretan: Der Theologe Karl Rahner hat mich motiviert Kirchenrechtswissenschaft zu studieren. Er vertritt die Auffassung, dass das Konzil zur Makulatur verkommt, wenn diese Konzilstexte nicht in verbindliches Verfassungsrecht der Kirche übersetzt werden. Papst Paul VI. hatte dieses Anliegen aufgenommen in einem Grundrechtskatalog der kirchlichen Verfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis), die aber von Johannes Paul II. nicht in Kraft gesetzt wurde. Die vom Konzil beschriebene Würde der Person (DH 1), die Gleichstellung der Gläubigen (LG 32), das Diskriminierungsverbot (GS 29), die Religionsfreiheit (DH) und die menschenrechtliche Argumentation des obersten Lehramtes bekommen erst als rechtliche Grössen ihre Verbindlichkeit. Menschenrechte sind ja ein Instrument gegen den Machtmissbrauch in der Kirche, wie es die erste Bischofssynode 1967 sehr klar formuliert hat.

«Denn man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken.»

Während die katholische Kirche nach aussen eine Verfechterin der Menschenwürde ist, scheint sie kirchenintern einen anderen Massstab zu haben. Wie begründet sie diesen ungleichen Umgang mit den Grundrechten?

Loretan: Die Kirche will die Grundsätze der sozialen Ordnung verkündigen, «insoweit die Grundrechte der menschlichen Person […] dies erfordern» (c. 747 § 2). Genau an diesen Grundrechten, die die Kirche nach aussen verkündet in ihrer Soziallehre, wird sie nun nach innen gemessen. Denn man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken. Solange das geltende Recht der Kirche von einem schrankenlosen Vorbehalt zu Gunsten der kirchlichen Autorität ausgeht, kann von Grundrechten in einem strikten Sinn in der Kirche nicht die Rede sein. Deren Wesen besteht darin, dass sie der Ausübung des Amtes Schranken setzt. Genau diese schrankenlose Autorität führt zum Machtmissbrauch. Ohne garantierte Menschenrechte können sich die Opfer sexueller Gewalt nicht gegen die Amtspersonen wehren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg

Auch andernorts werden die Grundrechte nicht umgesetzt. So gibt es Staaten, welche die Menschenrechte als Produkt aus dem Westen ablehnen. Ist dieser Einwand berechtigt?

Loretan: Der moderne Rechtsstaat ist im christlichen Europa herangereift, das institutionell von der römisch-katholischen Kirche geprägt war. Wer also den modernen Rechtsstaat verstehen will, kommt an der Kirche institutionell und rechtsphilosophisch nicht vorbei, wie Jürgen Habermas in seiner Philosophiegeschichte (Bd. 1, 2019) zeigt.

Dieser erste vorbildliche Rechtsstaat Europas, die Kirche, hat sich nach der Französischen Revolution von allen Verfassungsstaaten verabschiedet und durch das Aufgeben des bisher gemeinsamen Naturrechts von Kirche und Staat isoliert. Damit hat die Kirche die rechtswissenschaftliche Weiterentwicklung wie so viele andere Kritiker der Menschenrechte verpasst, so dass zwischen Kirche und Gesellschaft in Westeuropa ein Graben entstanden ist, der eine Vermittlung des Evangeliums an die nächste Generation fast verunmöglicht.

Man kann natürlich auch zu Recht von anderen Weltanschauungen und Religionen die Menschenrechte begründen und sollte dies auch tun, wie z. B. im Cambridge Handbook of Human Dignity. Hier werden buddhistische, hinduistische, islamische etc. Begründungen der Menschenrechte entwickelt.

«Menschenrechte sind eine Herausforderung.»

75 Jahre nach der Verabschiedung der AEMR werden noch immer die Grundrechte unsäglich vieler Menschen beschnitten. Was müsste geschehen, damit die Einhaltung der Menschenrechte zur Selbstverständlichkeit mutierte?

Loretan: Menschenrechte sind eine Herausforderung. Wenn sie dann selbstverständlich geworden sind, dann ist zu überprüfen, ob Sie schon im Reich Gottes angekommen sind. Der Anwalt der Ärmsten, Christus, meint: «Was ihr für eine(n) meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.» (Mt 25,40). Kann man das Anliegen der Menschenrechte besser formulieren? Ich glaube schon. Die Folter der sexuellen Gewalt wird erst abgeschafft, wenn wir im Opfer sexueller Gewalt, auch einen Menschen, also eine Person erkennen, Christus erkennen (Mt 25,40), der eine ‹menschenwürdige› Behandlung verdient. Menschen sollen sich gegenseitig als Gleiche, als Ebenbilder Gottes (Gen 1,26), anerkennen und gleichzeitig in ihrer Andersheit respektieren, wie die Goldene Regel der Bergpredigt Jesu (Mt 7,12), rechtlich übersetzt im Decretum Gratiani (1140), es schon seit zwei Jahrtausenden fordert.

Mary McAleese war von 1997-2011 Präsidentin der Republik Irland.
Mary McAleese war von 1997-2011 Präsidentin der Republik Irland.

Wie kann die AEMR umgesetzt werden?

Loretan: Der ethische Anspruch muss in Rechtstexten umgesetzt werden. Die Menschenwürde und die daraus fliessenden Menschenrechte, auch der Kinder, wird z. B. durch die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention durch den Heiligen Stuhl völkerrechtlich unterstrichen. Aber ohne rechtliche Übersetzung ins geltende Recht der Kirche, einer Institution von 1,4 Milliarden Menschen, bleibt diese Völkerrechtskonvention ebenfalls Makulatur. Auch der internationale Überwachungsausschuss der UN-Kinderrechtskonvention weist die Kirche immer wieder darauf hin, dass sie die Kinderrechte noch nicht in ihr Verfassungsrecht aufgenommen hat, obwohl der Heilige Stuhl die Kinderrechtskonvention ratifiziert hat. An der UN-Kinderrechtstagung vom 12./13. März 2024 an der Universität Luzern wird die ehemalige Staatspräsidentin Irlands und Kinderrechtsexpertin, Mary McAleese, die Rechte der Kinder einfordern, z. B. das Recht auf gewaltfreie Erziehung (Art 19 der UN-Kinderrechtskonvention).

*Adrian Loretan ist Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Uni Luzern.

Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Erstpublikation war im Pfarreiblatt Zug 50/51.


Adrian Loretan | © Philipp Schmidli
10. Dezember 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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