Adrian Loretan
Schweiz

Adrian Loretan kritisiert Pius IX.: «Demokratische Regierungsformen über Bord geworfen»

Soll der Staat eingreifen, um der katholischen Kirche bei Reformen auf die Sprünge zu helfen? Nein, sagt der Berliner Dogmatiker Georg Essen. Der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan lobt an einer Tagung Franziskus’ Entscheidung, dass Frauen nun auch Spitzenfunktionen im Vatikan einnehmen können.

Die Situation der römisch-katholischen Kirche ist nach Einschätzung des Berliner Theologen Georg Essen «ebenso brisant wie dramatisch». Auf der Basis ihrer Lehr- und Rechtsordnung gelinge es ihr nicht, «dem Freiheitsbewusstsein ihrer Gläubigen gebührende Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen», sagte Essen am Freitag in Berlin. Der Direktor des Instituts für Katholische Theologie (IKT) an der Humboldt-Universität sprach zum Auftakt einer Tagung über «Religionspolitische Reformperspektiven für die Kirchen».

«Die Selbstmodernisierung muss die Kirche schon selbst leisten»

Essen betonte, es sei kein Ausweg, «dass der religionsneutrale Staat hier in die Bresche springen soll». Staatliche Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Kirchen verböten sich wegen des verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. «Die überfällige Aufgabe einer Selbstmodernisierung muss die Kirche schon selbst leisten, die kann ihr niemand abnehmen – und schon gar nicht der Staat», so der Dogmatikprofessor.

Tagung in Berlin: Der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan ist rechts zu sehen.
Tagung in Berlin: Der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan ist rechts zu sehen.

Die Lage der Kirche sei jedoch «nicht allein ein internes Problem der Kirche selbst, mit dem sie klarkommt oder auch nicht», räumte Essen ein. Sie habe auch Folgen für das öffentliche Wirken der Kirche in die Gesellschaft hinein.

Zwischen Demokratie und illiberaler Demokratie

«Kann eine Kirche wie die römisch-katholische für eine in die Krise geratene Demokratie eine Stütze sein, kann sie einen Beitrag zur Verlebendigung der politischen Identität leisten, kann sie das fragile Freiheitsbewusstsein von Bürgerinnen und Bürgern stärken, wenn es um ihre eigene Liberalitätskompetenz nicht zum Besten bestellt ist», fragte der IKT-Direktor. Dieses Thema «sollte den religionsneutralen und deshalb kooperationsoffenen Staat mehr umtreiben, als dies derzeit ersichtlich ist».

Essen äusserte die Vermutung, «die hartnäckige Weigerung der Kirche, dem Freiheitsbewusstsein der Moderne in ihrer inneren Verfassung angemessen Rechnung zu tragen», sei ein Indiz dafür, «dass sie in Zeiten der Krise jene liberale Demokratie nur halbherzig unterstützen wird, die ihr Gestaltungsräume eröffnet». Es gebe auch im Katholizismus Kräfte, «die für eine illiberale Demokratie, die für sie die wahrhaft christliche ist, eintreten und deshalb die antimodernistische Verschärfung suchen».

Adrian Loretan lobt Papst Franziskus

An der Tagung in Berlin nahm auch der Luzerner Professor für Kirchenrecht, Adrian Loretan, teil. Er hob hervor, die katholische Kirche habe Jahrhunderte lang wesentliche Beiträge zur Entwicklung parlamentarischer und demokratischer Regierungsformen geleistet. Diese Rechtstraditionen habe Papst Pius IX. jedoch mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869-1870) «über Bord geworfen». Als revolutionär würdigte Loretan die Entscheidung von Papst Franziskus, auch Spitzenfunktionen im Vatikan für Frauen zu öffnen.

Der Berliner Staatsrechtler Christian Waldhoff verwies darauf, dass die Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland zu Veränderungen auf beiden Seiten geführt habe. So habe der Staat zur Etablierung von islamischem Religionsunterricht anstelle von kirchenähnlichen Kooperationspartnern Beiräte mit Vertreterinnen und Vertretern muslimischer Organisationen akzeptiert. Bei diesen habe es im Gegenzug zu mitgliederschaftlichen Strukturen geführt, die in ihrer religiösen Tradition «nicht angelegt» gewesen seien. 

Der Staatskirchenrechtler Ansgar Hense (Bonn/Dresden) nannte es eine «ständige Aufgabe», die Grenzen der Kompetenzen von Staat und Religionsgemeinschaften auszuloten. (kna)


Adrian Loretan | © Philipp Schmidli
24. Juni 2022 | 18:12
Lesezeit: ca. 2 Min.
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