Jacqueline Keune, Theologin
Konstruktiv

«Abel aus Charkiw»: Jacqueline Keunes Meditation zum Ukraine-Krieg

«Lyrik ist für mich der Versuch, etwas von der eigenen Fassungslosigkeit zu fassen», sagt die Theologin Jacqueline Keune. Christlicher Pazifismus ist für sie nicht naiv: «Ich will am Traum von einer Welt ohne Gewalt festhalten.»

Raphael Rauch

Haben Sie schon ein Ukraine-Gedicht geschrieben?

Jacqueline Keune*: Nein. Es ist nicht erst seit dem 24. Februar Krieg. Die Menschen in Syrien bewohnen den Krieg schon seit über zehn Jahren. Auch wenn die Welt am 24. Februar keine andere geworden ist: Mich hat Putins Angriff auf die Ukraine tagelang sprachlos gemacht. Ich konnte im gemeinschaftlichen Abendgebet nicht mal die kleinste Fürbitte formulieren.

Und wie haben Sie wieder zur Sprache gefunden?

Keune: Für eine Karfreitagsliturgie habe ich begonnen, eine Meditation zu schreiben. Sie knüpft an Genesis 4 an, wo Adonaj zu Kain mit dem Stein in der Hand sagt, dass das Blut seines Bruders die Stimme erheben und zu ihm vom Erdboden schreien würde. Es ist bloss ein Entwurf:

Abel aus Charkiw

Das Blut der Geschwister
erhebt seine Stimme und schreit zu dir
von den Strassen Mariupols
von den Strassen Charkiws
von den Strassen Chersons
Lwiws, Odessas, Kiews

Das Blut der Geschwister
das betagte, das eben erst geborene, das unschuldige Blut
erhebt seine Stimme und schreit zu dir
von den Feldern
von den Gärten
von den Gassen
den Hinterhöfen und Spielplätzen
der Ukraine im März

Aus den Ruinen Syriens
aus den Ruinen Malis
aus den Ruinen Afghanistans
den Ruinen Jemens
den Ruinen Libyens
Pakistans und Palästinas
schreit es zu dir
das verschmierte
das verblasste Blut

Es erhebt Anklage
es schwillt an zum Chor
es schreit dir die Ohren voll
und lässt die Himmel gerinnen
das wahllose Blut aus Vietnam
das abgeschlachtete Blut aus Srebrenica
das ausgehungerte, das eingefrorene Blut aus Stalingrad
das verstümmelte aus Ruanda
das jüdische
das schwarze
das Frauenblut

Seine purpurne Stimme erhebt es
all das Blut der Kriege
all das Blut der Kinder
und schreit sich aus Millionen von Kehlen zu dir
vom Erdboden

über den die Lüfte
die Samen der Linden
streuen

Der Kiewer Metropolit Onufrij Berezowskij hat Putins Kriegstreiben als «Verbrechen von Kain, der seinen Bruder Abel ermordete» gegeisselt. Hat Sie diese Äusserung dazu verleitet, sich aktuell mit Kain und Abel auseinanderzusetzen?

Keune: Nein. Ich werde die Ostertage in einer Gruppe verbringen, dort werden wir uns am Karfreitag mit der Geschichte von Kain und Abel auseinandersetzen, wo das Morden seinen Anfang genommen hat.

Welche Möglichkeiten, welche Grenzen haben Gedichte in Zeiten des Krieges?

Keune: Das Gedicht ist für mich der Versuch, etwas von der eigenen Fassungslosigkeit – etwa über die Rohheit, die sich von keiner Regung des Lebens mehr anrühren lässt – zu fassen und aus dem herauszufinden, was die Sprache verschlägt. Das Gedicht erhebt keinen Anspruch auf eine allgemein gültige Wahrheit. Es lässt Menschen sich einfach aussprechen, auch stammelnd.

«Mein Vater konnte sein Leben lang nicht von der Unmenschlichkeit sprechen.»

Krieg ist etwas, von dem ich selber keine Ahnung habe. Mein Vater, ein Holländer, hat den Krieg als junger Mann erlebt. Er konnte sein Leben lang nicht von der Unmenschlichkeit sprechen. Aber gerade seine Sprachlosigkeit hat uns Kindern vom Krieg erzählt.

Was kann ein Gedicht bewirken?

Keune: Ein starkes Gedicht kann mich oft mehr erschüttern als eine lange, kluge Abhandlung. Vielleicht, weil es auch das Unaussprechliche anerkennt. Ich stelle mir vor, dass die Lyrik für Menschen auch eine Art Ausweg aus grossem Leiden sein kann, vielleicht gar das einzige Mittel, ihm zu begegnen und daran nicht zu zerbrechen. Ein Gedicht kann helfen, zu sich zu kommen – das, was eine Konsumgesellschaft immer zu verhindern sucht. Eines meiner ältesten und liebsten Gedichtbändchen heisst schlicht «Gedichte gegen den Krieg» und erinnert mich daran, dass Worte nicht nur Kriege anstossen, sondern sich auch gegen sie stemmen können.

Frieden für alle – gesehen in Zürich.
Frieden für alle – gesehen in Zürich.

Was macht Ihnen Angst?

Keune: Mir bereit grosse Sorge, wie viele politisch Verantwortliche dieser Welt nun daran gehen, militärisch aufzurüsten und entsprechende Versäumnisse in der Vergangenheit als Versagen zu beklagen, wie das etwa in Deutschland geschieht. Aber was soll das für ein Friede sein, der auf Flugabwehr und Atomwaffen gebaut ist? Die Antwort auf Raketen und Panzer kann doch nicht einfach noch mehr Raketen, Panzer und ein neues Auf- und Wettrüsten sein. Waffen sind nicht die Lösung, Waffen sind das Problem. Um es mit einem Bild von Bertha von Suttner zu sagen: Es ist, als wollte man Ölflecken mit Öl oder eben Blut mit Blut wegwaschen.

Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.
Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.

Trotzdem gibt die NATO ein besseres Sicherheitsgefühl als christlicher Pazifismus. 

Keune: Ich kann nicht beurteilen, welches Gefühl von Sicherheit sich bei den Menschen in der Ukraine einstellen würde, wenn sich die Gefechte durch das Eingreifen der NATO noch potenzieren würden.

«Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.» «Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Töchter und Söhne Gottes genannt werden.» Fast jeden Abend werden uns im Friedensgebet in der Lukaskirche in Luzern diese immer gleichen Sätze vorgelesen. Und auch wenn ich die Zumutung spüre angesichts von Menschen, die ihre Heimat und ihr Leben verteidigen wollen, so bleibt Jesu Vision für mich richtig, gültig und wegweisend.

Friedensdemo in Solothurn, 4. März
Friedensdemo in Solothurn, 4. März

Ist diese Haltung nicht naiv, wenn man es mit einem Diktator wie Putin zu tun hat?

Keune: Zum einen ist die Haltung so naiv wie es die Seligpreisungen Jesu sind, die er zur Zeit von römischer Unterdrückung und Besatzung ausgesprochen hat. Zum anderen frage ich mich, was denn die Alternativen wären. Nur ein bisschen zurückschlagen? Oder die russische Armee in der Ukraine mithilfe von aussen vollständig vernichten? Und dann? Beim nächsten Angriff? Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass sich Menschen verteidigen wollen, ich würde bei einem Überfall auf mich vermutlich auch wild um mich schlagen. Und gleichzeitig will ich am Traum von einer Welt ohne Gewalt festhalten.

«Meine stärkste Hoffnung: dass sich die Gerechtigkeit durchsetzen wird.»

Was macht Ihnen Hoffnung?

Keune: Am letzten Wochenende haben die Romero-Tage stattgefunden. Sie standen unter der Überschrift «Stimmen der Hoffnung». Mir ist da neu bewusst geworden, wie sehr sich meine Hoffnung vom Handeln nährt. Und sei es nur, indem ich mit meinem Kartonschild in den Händen an einer Demo für die Ukraine mitlaufe oder mich abends in der Lukaskirche ins Friedensgebet setze. Auch der politische Schulterschluss macht mir Hoffnung, der über Sanktionen gewaltfreien Widerstand leistet. Meine stärkste Hoffnung aber ist jene, dass sich die Gerechtigkeit durchsetzen wird. Und die Stimme der Gerechtigkeit auch mit allen Bomben der Welt zusammengenommen niemals zum Schweigen gebracht werden kann.

Dorothee Sölle war eine sehr friedensbewegte Theologin. Sehen Sie sich in ihrer Tradition?

Keune: Dorothee Sölles Lyrik und ihre Theologie waren für mich über viele Jahre hin wichtig. Dorothee Sölle hat nie im luftleeren Raum Theologie betrieben, sondern nach deren politischen Konsequenzen gefragt. Ihr politisches Engagement hat sich, so wie ich es verstehe, von ihren theologischen Träumen genährt. Und ihre Theologie hat sich von den konkreten Lebensrealitäten herausfordern und beauftragen lassen. Die Gedichte von Dorothee Sölle sprechen gerade in ihrer politischen Konkretheit zu mir.

Spruch an einer Mauer in Zürich.
Spruch an einer Mauer in Zürich.

Kommen wir zum politisch Konkreten: Werden Sie sich bei der Aktion «Kirchen gegen Frontex-Ausbau» engagieren?

Keune: Ich werde im Mai mein Nein gegen die Vervielfachung des Beitrags an Frontex in die Urne legen, weil nicht zuerst Grenzen, sondern Flüchtlinge geschützt werden müssen. Nicht Flüchtende, sondern die Ursachen der Flucht müssen bekämpft werden.

* Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und Autorin. Am heutigen Mittwoch, 30. März, ist sie um 19.30 Uhr im Pfarreizentrum St. Martin in Effretikon zu Gast.


Jacqueline Keune, Theologin | © zVg
30. März 2022 | 05:00
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