Bischof Charles Morerod und "SAPEC"-Gründer Jacques Nuoffer im Februar 2020.
Schweiz

Jacques Nuoffer: «Morerod hat gute Intentionen, ist aber zum Teil naiv»

Jacques Nuoffer (76) hat für die Westschweizer Opfervereinigung «SAPEC» den Herbert-Haag-Preis erhalten. Er kritisiert: «Bislang ist die Kirche nicht bereit, ihre Sexualmoral zu ändern und den Klerikalismus zu beenden.»

Raphael Rauch

Was bedeutet Ihnen der Herbert-Haag-Preis?

Jacques Nuoffer*: Mir fällt das Sprichwort vom Propheten ein, der im eigenen Land nicht so viel wert ist. Ich finde es bezeichnend, dass eine Deutschschweizer Stiftung die Westschweizer Opfervereinigung «SAPEC» auszeichnet. Das freut uns sehr und hilft hoffentlich, auch weiterhin das Schweigen zu brechen. 

Jacques Nuoffer
Jacques Nuoffer

Und was bedeutet Ihnen die Preisverleihung persönlich?

Nuoffer: Die Preisverleihung gestern in Luzern war für mich ein wichtiger Moment. Mir hat viel bedeutet, dass meine Tochter anwesend war. Als sie geboren wurde, ist mein Trauma wieder hochgekommen: Ich wurde im Alter von 14 Jahren von einem Ordenspriester missbraucht, einem Freund der Familie. Mir ging es nach der Geburt meiner Tochter nicht gut. Meine Ehe ist daran zerbrochen, ich musste eine Psychotherapie machen und hatte kaum Zeit für meine Tochter. Umso schöner war es, dass sie gestern da war.

«Als Bischof Genoud gestorben war, ist die Arbeit für uns einfacher geworden.»

Im Alter von 63 Jahren haben Sie sich an das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg gewandt, um an Akten zu gelangen. Das war im Jahr 2009.

Nuoffer: Ich war in Rente und hatte endlich die Zeit und die Kraft dafür gefunden. Es war ein langer Prozess und sehr belastend. Der damalige Bischof Bernard Genoud und der damalige Provinzial der Missionare des Heiligen Franz von Sales haben sich geweigert, mir Akteneinsicht zu gewähren und meine Fragen zu beantworten. Ich bin deswegen ans Westschweizer Radio gelangt – damals noch anonym. Ich wollte mich mit weiteren Betroffenen zusammenschliessen. Daraus ist dann unsere Organisation «SAPEC» entstanden. Als Bischof Genoud gestorben war, ist die Arbeit für uns einfacher geworden. Der damalige Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, und der neue Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, haben uns unterstützt.

Ihr Druck zwingt die Kirche zum Handeln: Jacques Nuoffer (SAPEC) und Vreni Peterer (IG-MikU)
Ihr Druck zwingt die Kirche zum Handeln: Jacques Nuoffer (SAPEC) und Vreni Peterer (IG-MikU)

Wie sehen Sie Zukunft von «SAPEC»?

Nuoffer: Viele Opfer wollen keinen Kontakt mit der Kirche haben. Deswegen ist es wichtig, dass es Organisationen wie «SAPEC» oder «CECAR» gibt, an die sich die Opfer wenden können. Auch Menschen in der Deutschschweiz können sich an uns wenden. Wir haben an der Übersetzung der «CECAR»-Texte ins Deutsche mitgearbeitet; sie werden demnächst im Internet veröffentlicht. 

Bischof Morerod enthüllte 2019 die Gedenktafel für Missbrauchsopfer in der Freiburger Kathedrale.
Bischof Morerod enthüllte 2019 die Gedenktafel für Missbrauchsopfer in der Freiburger Kathedrale.

Hat das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg die notwendigen Konsequenzen aus der Missbrauchskrise gezogen?

Nuoffer: Den Verantwortlichen ist klar, dass der Missbrauch in der katholischen Kirche kein Betriebsunfall ist, sondern Teil eines toxischen Systems ist. Drei von fünf Kriterien hat die katholische Kirche erfüllt: Sie hat erstens um Vergebung gebeten, zweitens Wiedergutmachung bezahlt – und drittens nun ein Forschungsprojekt lanciert.

«In der Priesterweihe steckt eine Überhöhung drin, die Teil des Problems ist.»

Welche zwei Kriterien sind nicht erfüllt?

Nuoffer: Bislang ist die Kirche nicht bereit, ihre Sexualmoral zu ändern und den Klerikalismus zu beenden. Der Klerikalismus existiert nach wie vor. In der Priesterweihe steckt eine Überhöhung drin, die Teil des Problems ist. Männer sollen wie Christus werden, sie werden mit einer problematischen Machtfülle ausgestattet.

Die Affären um Paul Frochaux, Alain Chardonnens und weitere Priester haben das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg belastet.
Die Affären um Paul Frochaux, Alain Chardonnens und weitere Priester haben das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg belastet.

Die Glaubwürdigkeit von Bischof Charles Morerod und Weihbischof Alain de Raemy hat durch die Frochaux-Affäre stark gelitten. Ein Priester wurde zum Kathedralherrn befördert, der sein 17-jähriges Firmpatenkind missbraucht hatte. Adrienne Cuany sagt, Alain de Raemy habe von der Tat gewusst.

Nuoffer: Morerod hat gute Intentionen, ist aber zum Teil naiv. Das zeigt sich auch in anderen Bereichen. Wir haben öfter die Doppelmoral im Bistum angesprochen: Auf der einen Seite ist die katholische Kirche homophob, auf der anderen Seite gibt es im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg ein ausgeprägtes homoerotisches Klima. Ich verstehe nicht, warum die Untersuchung des Anwalts Harari nicht öffentlich gemacht worden ist. Immerhin sehen wir Fortschritte im Seminar in Givisiez. Hier gab es früher grossen Widerstand gegen eine psychologische Schulung der Priester. Die neue Psychologin sollte mehr auf die psychologischen Aspekte der Kandidaten eingehen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Bischof Joseph Maria Bonnemain

Sie arbeiten auch schon länger mit Joseph Bonnemain zusammen. Er war seit 2002 Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz, seit 2021 ist er als Bischof Dossierverantwortlicher. Wie ist Ihre Zusammenarbeit?

Nuoffer: Ich finde Joseph Bonnemain sympathisch und freundlich. Aber ich habe ihm klar gesagt, dass ich es nicht gut finde, wenn alles in Zürich diskutiert wird – ohne Vertretung der Romandie und ihrer Sensibilität. Im Gegenzug findet nun die Pressekonferenz für die geplante Missbrauchsstudie in Lausanne statt. Ich werde dort wiederholen, was ich bislang gesagt habe: Uns frustriert, dass Opferorganisationen bislang nicht einbezogen wurden. Und wir finden es wichtig, einen Aufruf zu Zeugenaussagen zu veröffentlichen. Es reicht nicht, nur Archive zu konsultieren. Wir befürchten, dass die Studie nicht umfassend genug wird.

Ansonsten war die Zusammenarbeit mit Bonnemain gut. Wir haben nicht die Konfrontation gesucht, weil wir sonst für die Opfer nichts erreichen. Bonnemain kann akzeptieren, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt. 

Gedanken zur Synodalität - geäussert auf dem RKZ-Fokus in Bern.
Gedanken zur Synodalität - geäussert auf dem RKZ-Fokus in Bern.

Wie beurteilen Sie den synodalen Prozess?

Nuoffer: Das, was ich mitbekommen habe, hat mich nicht überzeugt. Die eigentlichen Fragen, die eigentlichen Probleme werden nicht angesprochen: Die Frauenfrage, die Ämterfrage, die Machfrage – hier passiert nichts. Es wurde viel über Details diskutiert, aber nicht über das Essentielle.

Jacques Nuoffer in Luzern bei der Verleihung des Herbert-Haag-Preises.
Jacques Nuoffer in Luzern bei der Verleihung des Herbert-Haag-Preises.

Sind Sie noch Mitglied der römisch-katholischen Kirche?

Nuoffer: Mein Grossvater war 57 Jahre Sakristan. Mein Vater war 30 Jahre Sakristan. Ich selbst war 15 Jahre Ersatz-Sakristan und habe in den 1960er-Jahren eine liturgische Gruppe gegründet. Aber als ich in den Kanton Bern kam, hatte ich mich bereits von der katholischen Kirche entfernt. Ich wollte nicht Kirchensteuern zahlen für eine Pfarrei, die ich nicht nutze. Deswegen bin ich ausgetreten.

* Jacques Nuoffer (76) hat am Sonntag für sein Engagement in der Westschweizer Opfervertretung «SAPEC» (Soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse) den Herbert-Haag-Preis erhalten. Die Organisation wurde 2010 gegründet und ist damit die älteste Opfervereinigung in der Schweiz.

Eine weitere Auszeichnung erhielt Albin Reichmuth, Initiant einer Selbsthilfegruppe von Missbrauchsopfern und Präsident eines unabhängigen Vereins, der «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld». Aus gesundheitlichen Gründen konnte Albin Reichmuth den Preis nicht persönlich entgegennehmen. Stellvertretend nahm ihn Vreni Peterer entgegen, die ebenfalls Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft ist.


Bischof Charles Morerod und «SAPEC»-Gründer Jacques Nuoffer im Februar 2020. | © Georges Scherrer
14. März 2022 | 18:20
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