Wegweisendes Urteil rechtskräftig!

Medienmitteilung

Gericht bestätigt: Grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen ist berechtigt – Die religiöse Praxis verstösst gegen elementare Rechte der Mitglieder – Auch Kinder sind von Ächtung betroffen – Die Zwei-Zeugen-Regel begünstigt sexuelle Gewalt gegen Kinder

Im Juli 2019 hat das Bezirksgericht Zürich eine Sektenexpertin und ehemalige Mitarbeiterin der Fachstelle infoSekta in allen Anklagepunkten freigesprochen. Sie war von der Vereinigung der Jehovas Zeugen der Schweiz infolge eines Interviews im Tages-Anzeiger (2015) sowie einer Medienmitteilung (2015) wegen übler Nachrede angezeigt worden. Seit Frühling 2020 ist klar: Die Jehovas Zeugen Schweiz verzichten auf Berufung. Damit ist das Urteil, das für die Jehovas Zeugen vernichtend ausgefallen ist, rechtskräftig.

Das Urteil ist nach unserem Wissen in seiner Art weltweit einzigartig: Anhand von umfangreichem Beweismaterial prüfte das Gericht die Aussagen der Sektenexpertin zu zentralen Kritikpunkten der Lehre der Zeugen Jehovas eingehend. Es kam zum Schluss, dass die Kritik berechtigt war: Die Praxis der Jehovas Zeugen verstösst gegen elementare Rechte der Mitglieder und ihrer Angehörigen. Das Urteil ist wichtig für die Aufklärung – denn die Lehre der Jehovas Zeugen ist weltweit gleich. Das Urteil ist aber auch von Bedeutung, weil es Fragen rund um die Körperschaftsanerkennung der Jehovas Zeugen in Deutschland aufwirft.

Weshalb dieses Urteil so wichtig ist

Bisher wurden in der Schweiz die kritisierten religiösen Vorgaben, welche die psychische und körperliche Integrität von Kindern und Erwachsenen innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gefährden, toleriert. Nach diesem Urteil sind Schweizer Politiker*innen gefordert, aktiv zu werden und die Gesetzgebung zu überprüfen und zu entscheiden, welche politischen Massnahmen zu ergreifen sind.

Deutschland und Österreich müssen erklären, weshalb sie als Staaten ein Religionsrecht billigen,

  • das von (sexueller) Gewalt betroffene Kinder und Frauen zum Schweigen bringt,
  • das Eltern auffordert, ihre minderjährigen Kinder zu ächten und
  • das Menschen in Lebensgefahr im Stich lässt.

Das Urteil macht ausserdem deutlich, dass die Zeugen Jehovas beim Anerkennungsverfahren um die Körperschaft des öffentlichen Rechts dem Staat offensichtlich nicht die Wahrheit gesagt haben, denn Ächtung betrifft auch die Kernfamilie: Eltern-Kind-, Geschwister- und Paar-Beziehungen, sie trifft sogar Kinder und Jugendliche. Ächtung reisst Familien auseinander – in Deutschland und Österreich mit staatlicher Billigung.

Dieses Urteil ist aber auch deshalb wichtig, weil die Religionsgemeinschaft weltweit versucht, Sektenexpert*innen, Journalist*innen oder Aktivist*innen mit Klagen einzuschüchtern.

Worum es im Prozess ging

Die Sektenexpertin Dr. phil. Regina Spiess war wegen sog. Übler Nachrede, einem Ehrverletzungsdelikt (Art. 173 des Strafgesetzbuches) angeklagt. Weil wahre ehrverletzende Behauptungen in der Regel straflos sind, ging es im Gerichtsverfahren darum darzulegen, dass die Behauptungen der Wahrheit entsprechen. Der Expertin gelang der sog. Entlastungsbeweis in sämtlichen angeklagten Punkten: Sie konnte zeigen, dass die Äusserungen wahr sind (Wahrheitsbeweis) bzw. dass sie in guten Treuen für wahr gehalten werden konnten (Gutglaubensbeweis). Die Äusserungen erfolgten zudem in Wahrung öffentlicher Interessen. Es wurden 24 Zeug*innen benannt. Das Gericht verzichtete jedoch auf ihre Einvernahme, weil der Entlastungsbeweis bereits durch das umfangreiche schriftliche Beweismaterial erbracht worden sei. Der Sektenexpertin wurde eine für Schweizer Verhältnisse enorme Prozess-Entschädigung von Fr. 20›500 für Anwaltskosten sowie zusätzlich eine persönliche Umtriebsentschädigung von Fr. 4000 aus der Gerichtskasse zugesprochen. Zunächst hatten die Jehovas Zeugen Schweiz Berufung angekündigt. Nach Vorliegen des schriftlichen Urteils im Januar liessen sie dann aber die Frist, Berufungsanträge zu stellen und diese zu begründen, ungenutzt verstreichen.

Ächtung

Getaufte Mitglieder der Zeugen Jehovas, die sich vom Glauben abwenden oder gegen Vorschriften verstossen, werden aus der Gemeinschaft ausgestossen. Andere Jehovas Zeugen dürfen mit ihnen keinen Kontakt mehr pflegen, sie nicht einmal mehr grüssen. Das gilt auch für engste Angehörige.

Betroffene verlieren damit oft auf einen Schlag sämtliche Bezugspersonen, auch die ganz nahen: Eltern, Kinder, Geschwister, Partner*innen, Grosseltern und Freund*innen. Geächtete Personen erfahren oft von Dritten von der Hochzeit, der Geburt oder dem Tod nächster Angehöriger. Heute werden Kinder oft schon mit 11 Jahren oder jünger getauft. Danach können sie nicht mehr frei entscheiden, wie sie leben und woran sie glauben möchten – weil sie sonst alle geliebten Menschen verlieren.

Medienmitteilung und Ausführungen zu den einzelnen Punkten (pdf)

InfoSekta
8. Juli 2020 | 16:20