«Über kurz oder lang wird es einen heissen Krieg geben»

Nahost-Experte Reinhard Schulze rechnet unmittelbar mit keiner Eskalation zwischen Jerusalem und Teheran – langfristig aber schon.

Herr Schulze, wie beurteilen Sie Israels Reaktion auf den iranischen Angriff?

Reinhard Schulze: Es ist wie eine Eskalationstreppe: Israel hat die erste Stufe genommen, die zunächst eine sehr begrenzte Aktion darstellt. Sie war so angelegt, dass der Iran sich nicht unmittelbar zu einer scharfen Reaktion genötigt sah.

Kann der Iran Israel ernsthaft in Gefahr bringen?

Die iranischen Streitkräfte bestehen aus den regulären drei Teilstreitkräften mit etwa 450 000 Mann sowie aus den Einheiten der Revolutionsgarden, die inzwischen vielleicht 150 000 Mann haben. Da keine direkte Konfrontation zu Lande zu erwarten ist, würden die Luftstreitkräfte die Hauptlast tragen – hier ist Israel klar überlegen.

Wie verhält sich Russland mit Blick auf den Iran?

Das russische Regime hat in den letzten Tagen immer deutlicher seine Allianz mit dem Iran herausgestellt und dessen Vorgehen gestützt, ja gebilligt. Die enge Militärkooperation Russlands mit Iran ist für Moskau von enormer strategischer Bedeutung. Dadurch verschafft sich Russland ein strategisches Vorfeld im Nahen Osten, das bei einer möglichen Ausbreitung seiner Kriegspolitik gegen den Westen eine wichtige Rolle spielen könnte.

Mit welcher Entwicklung rechnen Sie in den nächsten Wochen?

Das ist schwer abzuschätzen. Es gibt zu viele Unbekannte. Allerdings gibt es gute Gründe anzunehmen, dass über kurz oder lang der politischideologische Konflikt zwischen dem Iran und Israel zu einem heissen Krieg werden wird. Das liegt vor allem daran, dass der Iran die Wiedergewinnung Jerusalems für die muslimische Welt zu einem Leitmotiv seines expansiven Nationalismus gemacht hat.

Israel wird das nicht zulassen.

Israel sieht im Iran vor allem eine Gefahr für die eigene Sicherheit. Die nationalistische Programmatik der Regierung Netanyahus bezieht sich nicht direkt auf den Iran, sondern eher auf die palästinensischen Gebiete. Da der Iran versucht, seine Hegemonie über das Anliegen der Palästinenser zu festigen, droht hier natürlich eine zweite, direkte Konfrontationsebene zwischen Israel und dem Iran.

Wie bewerten Sie die Enthaltung der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat bei der Frage, ob Palästina Uno-Vollmitglied werden solle?

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass eine Vollmitgliedschaft die Friedensmöglichkeit befördert: Israel könnte mit Palästina zum Beispiel die Zukunft von Gaza auf zwischenstaatlicher Ebene rechtssicher verhandeln. Es gibt aber auch Gegengründe. Trotzdem wäre eine entschiedene Position hilfreicher. Eine Zustimmung trotz mancher Risiken wäre mutiger. INTERVIEW

RAPHAEL RAUCH

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze (71) leitet an der Uni Bern das Forum Islam und Naher Osten.

Sonntagsblick
21. April 2024 | 08:38