Rettende Gerechtigkeit

Am 24. Dezember werden es auf den Tag genau zehn Monate her sein, seit Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Kommentar von Odilo Noti.

Gleichzeitig wird in den Kirchen die weihnachtliche Botschaft des Engels aus dem Lukasevangelium zu hören sein: «Auf Erden Friede den Menschen!» – ein unerträglicher Widerspruch, der nicht verdrängt oder kleingeredet werden darf.

Mittlerweile sprechen Analysen zum Krieg gegen die Ukraine von einem «Winter der Zermürbung», der eingesetzt habe: Permanente tägliche Luftalarme, tägliche stundenlange Stromausfälle, Unterbrechungen der Wasserversorgung, regelmässige Ausfälle der Heizungen angesichts eisiger Temperaturen. Und dies alles nicht nur in den umkämpften Regionen im Süden und Osten der Ukraine, sondern landesweit – eine humanitäre Krise bisher unerreichten Ausmasses.

Im deutschsprachigen Raum ist eine Debatte darüber entbrannt, dass mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine «eine Zeitenwende» stattgefunden habe. Putin habe friedens- und entspannungspolitische Selbstverständlichkeiten zur Makulatur werden lassen.

Auch innerhalb der Kirchen Europas wird die Frage debattiert: Muss der in intensiven Diskussionen und Lernprozessen vollzogene Wechsel von der augustinischen Lehre des gerechten Krieges zu einer Option für den gerechten Frieden nicht einer Revision unterzogen werden? Waren die Kirchen nicht zu naiv?

Es gibt jedoch auch mahnende Stimmen, die Kirchen sollten unbedingt an ihrer Einsicht festhalten, dass nur der Friede, nicht aber der Krieg gerecht sein könne. Es gebe jedoch Situationen, wie angesichts des Angriffskrieges auf die Ukraine, in denen trotz dieses Friedensethos ein Krieg als «ultima ratio» hingenommen werden müsse. Für ein christlich motiviertes Friedensethos ist eine solche Position eine Zumutung – so wie auch die Lehre vom gerechten Frieden politisch eine Zumutung ist.

Was zunächst den Eindruck eines akademischen ZuschauerDisputs erwecken könnte, gewinnt an Eindringlichkeit, wenn die Sicht der Opfer einbezogen wird. Das macht etwa die Rede von Serhij Zhadan deutlich, die dieser bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 23. Oktober 2022 gehalten hat: «Ich, der ich im Zentrum von Charkiw im achtzehnten Stock wohne und vom Fenster aus beobachten kann, wie die Russen von Belgorod aus Raketen abfeuern, wünsche mir nichts sehnlicher als die Einstellung des Raketenbeschusses, die Beendigung des Krieges, die Rückkehr zur Normalität, zu einem natürlichen Dasein.»

Zhadan insistiert jedoch darauf, dass es «keinen schnellen Frieden, keinen Frieden ohne Gerechtigkeit» gibt. Angesichts solcher Erfahrungen ist Selbstbescheidung statt Lehrmeisterei angesagt. Zugleich ist praktische Solidarität, tätiges Mitgefühl unverzichtbar mit jenen, die unschuldig leiden.

Und es geht um die Perspektive der Gerechtigkeit. Da wäre ein kritisches Wort der Kirchen an der Zeit – etwa zur europäischen wie nationalen Aufrüstungspolitik. «Aufrüstung tötet auch ohne Krieg!» Dieser Satz von Dorothee Sölle hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst.

Die jüdisch-christliche Tradition wird umgetrieben von der Vision der Gerechtigkeit, einer rettenden Gerechtigkeit. Sie besagt im Kern: Es muss anders zugehen in der Welt. Das Unrecht darf nicht das letzte Wort haben. Das ist die Friedensbotschaft von Weihnachten. Odilo Noti | 1953, ist Theologe. Er stammt aus Brig und wohnt in Zürich. odilo.noti@bluewin.ch

Walliser Bote
15. Dezember 2022 | 11:37