Paul Vollmar: Wolfgang Haas ist «sicher eine Fehlbesetzung»

kath.ch veröffentlicht ein Interview aus dem Jahr 1996 in voller Länge. Es erschien im «Anzeiger für die Seelsorge».

Den Kirchen in der westlich-säkularisierten Welt und Gesellschaft bläst der Wind ganz gehörig ins Gesicht. Und auch durch das Dach der Volkskirche regnet es, wie Bischof Dr. Franz Xaver Eder von Passau es zu formulieren pflegt, ungemein kräftig herein. Glaube und Glaubenssubstanz verdunsten und zerbröseln. Ist diese Entwicklung nicht auch mit eine Frage an die Glaubwürdigkeit von Christentum und Kirche?

Weihbischof Paul Vollmar: Es geht bei dieser Frage um die Glaubwürdigkeit von Christentum und Kirche. Und dieser Frage begegne ich – eigentlich bei meinen Kontakten mit jungen Leuten, mit Kirchgemeinden – immer wieder: Warum eigentlich Kirche? Oder die Kirche wird dann dargestellt als eine Institution, die veraltet ist, die heute nichts mehr zu sagen hat; eine Institution, die eigentlich nur Menschsein hindert, Freiheit hindert. Und ich muss sagen, dass, wenn ich gerade in unsere Diözese Chur schaue, oft der Eindruck entstehen kann, es geht rein um Strukturen, um das Äussere. Aber wirklich menschliches Leben, Entfaltung, das Innere, das wird übersehen. Glaubwürdigkeit bedeutet auch, dass man den Menschen ernst nimmt; das ist etwas, was nicht immer an der Tagesordnung bei uns ist. Oder man übergeht Menschen, man lässt Verleumdungen zu, man ist wirklich menschenverachtend in einem gewissen Sinn und damit werden wir weder junge Menschen noch ältere Menschen für unsere Kirche und ganz allgemein für das Christentum begeistern. 

Der Literaturkritiker und Theologe Dr. Franz-Josef Kuschel schrieb vor kurzem in der Zeitschrift «Imprimatur», die Kirche müsse den Mut finden, all das loszulassen, was nicht zu ihrem ursprünglichen Wesen gehört, was sich kulturell und geschichtlich nun einmal in dieses Wesen angelagert hat und was die Botschaft unglaubwürdig macht, indem der Geist der Freiheit abgewürgt wird. Sehen Sie das Ganze ähnlich? 

Vollmar: Ich habe vor kurzem mit einem Priester gesprochen. Er hat mir angekündigt, er würde die Kirche verlassen, er würde aus der katholischen Kirche austreten. Begründung: Die Kirche steht nicht mehr auf dem Boden des ursprünglichen Christentums. Mit anderen Worten, dass die Kirche heute sich einfach an verschiedene Formen wiederum klammert, nicht loslassen will, dass sie das Evangelium verrät. Für diesen Priester besteht das Evangelium vor allem in der Sorge für den Menschen, für das Heil des Menschen, den Menschen die Freude bringen, den Frieden bringen, aber nicht einfach auf äussere Strukturen pochen.

Ich persönlich glaube, dass die Kirche sicher wiederum einfacher werden soll. Ich würde sagen, dass sie die Seelsorge in den Mittelpunkt stellt und nicht allein Strukturfragen nachgeht, sich nicht nur immer wieder fragt: Sind wir wirklich im Rahmen des kanonischen Rechtes, des Kirchenrechtes? Denn dadurch verraten wir die Kirche Jesu Christi. Wenn wir ins Evangelium schauen, dann sehen wir Jesus, wie er den Menschen nachgeht, vor allem den Armen, den Isolierten, den am Rand Stehenden. Und das ist es, was wir eben oft vergessen. Wir ziehen uns zurück in unsere Paläste, wir versuchen Gottesdienste zu feiern, die im äusseren Rahmen wohl korrekt sind, aber die die Erwartungen der Menschen verraten. Und so kommt es dann zu einer gewissen Entfremdung, und von daher muss man solche Formen von früher, die einfach nicht mehr in unsere Zeit passen, loslassen. Wir sollten wiederum diese Einfachheit, diese Menschennähe Jesu finden. Ich würde einfach sagen, den Stil vom guten Hirten, wie Er ihn uns vorgelebt hat, nachahmen. 

Der neue Basler Bischof Kurt Koch hat anlässlich seines Amtsantrittes sich unter anderem dahingehend geäussert, für ihn sei es eine wesentliche Aufgabe, der Katholischen Kirche Schweiz den Blick zu öffnen und sie zu sensibilisieren über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus. Denn im letzten Jahrzehnt konnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass nicht wenige Katholiken hier sich ihre Nischen gesucht haben, in denen sie ihre eigene Kirche aufbauen und leben wollen. Ist dies auch Ihr Eindruck? 

Vollmar: Die Schweizer Kirche ist eine Gemeinschaft, in der das individualistische Moment sehr, sehr stark ausgeprägt ist. Wir können hier wohl unterscheiden zwischen den einzelnen Regionen, zum Beispiel die deutsche Schweiz, die französische Schweiz, die italienische Schweiz. Ich möchte mich nun konkret auf die deutsche Schweiz beschränken, obwohl auch hier wiederum Regionen bestehen. Ich könnte vielleicht sagen, wenn ich unser Bistum betrachte, die Region Kanton Zürich, dann die Urschweiz und dann Kanton Graubünden: hier ist dieses Individuelle sehr, sehr stark. Ich bin gegenwärtig daran, zu versuchen, sogenannte Pfarreiverbände zu gründen. Ich hatte am Anfang drei solcher Verbände im Kanton Graubünden vorgesehen, einen davon im Engadin. Aber ein einziger Versuch konnte beginnen, und zwar im Engadin, und auch dort muss man mehr oder weniger zusehen, wie es weitergeht. Dann auch besteht immer wieder das Problem, dass einzelne Pfarreien sich nach und nach wirklich abgrenzen wollen, oder wie es hier im Kanton Graubünden ist, dass oft nur 20-30 Christen eine Pfarrei bilden, auch die wollen ihren Pfarrer, ihren Geistlichen. Sie sind nicht bereit, in eine Kirche zum Sonntagsgottesdienst zu gehen, wohin sie 20 Minuten zu Fuss hätten, selbst wenn man ihnen einen Autobus zur Verfügung stellen würde. Das hat mich irgendwie enttäuscht; aber es ist einfach der Menschenschlag. Und etwas Ähnliches stelle ich dann auch in der Urschweiz fest. In der welschen Schweiz ist man etwas aufgeschlossener. Doch muss ich betonen, dass hier in der Schweiz eben dieses Abgrenzen nach aussen, oder wie wir auch sagen, diese Igelstellung, sehr stark ist.

Eine solche binnenschweizerische Einstellung lässt sich ohne Zweifel mit zurückführen auf die eindeutige Fehlbesetzung des bischöflichen Stuhles von Chur. Ein Bischof soll ja unter anderem ein Pontifex, das heisst ein Brückenbauer sein. Bischof Wolfgang Haas hat aber jetzt bereits über acht Jahre hinweg durch seine starre ultrakonservative Theologie und restriktive Amtsführung, die das Kirchenrecht nach eigenem Wohlgefallen handhabt und die Zeichen der Zeit nicht sieht oder sehen will, Gräben aufgerissen und die Diözese gespalten. Ist das nicht eine bedrückende pastorale Situation?

Die Besetzung des bischöflichen Stuhles von Chur ist sicher eine Fehlbesetzung. Im Gespräch mit Bischof Wolfgang Haas kann ich immer wieder feststellen, dass er auch sieht, dass er einfach nicht ankommt, wie wir sagen. Er ist nicht ein Mensch, der Brückenbauer ist, der Gemeinschaft schafft, wenn auch das Ganze eben eher mehr auf der emotionalen Ebene liegt. In diesen drei Jahren, da ich als Weihbischof hier arbeite, muss ich sagen, ist es mir nicht gelungen, irgendwie innerhalb der Diözese, vor allem in meinem Gebiet, das heisst Graubünden und Liechtenstein und in der Urschweiz, eine Änderung herbeizuführen. Bischof Wolfgang Haas wird weiterhin abgelehnt von jungen Menschen und von älteren Menschen. Und eine solche Situation stört, eine solche Situation polarisiert. Und wenn Bischof Haas irgendwie in einer Pfarrei Einfluss gewinnt, dann meistens durch eine kleine Gruppe, was aber immer wieder die Spannungen in einer Gemeinde sehr anwachsen lässt. Das ist, wie gesagt, die Situation. Es sind die Gräben da, die Diözese ist gespalten. Das Vertrauen ist nicht vorhanden. Und daher muss in dieser pastoralen Situation eine Änderung kommen. Alle wissen das, und wir hoffen ja, dass diese Situation bald eintritt. Ich möchte aber auch sagen, wenn einmal diese Fehlbesetzung korrigiert ist, heisst das nicht, es wird dann plötzlich keine Probleme mehr geben; aber wir werden die Probleme angehen können, was ja jetzt nicht der Fall ist.

Mein Heimatbischof, Erzbischof Dr. Karl Braun von Bamberg, hat erst kürzlich entgegen dem dringenden Ansuchen von Rom den superkonservativen Pfadfindern Europas untersagt, eine Niederlassung in der Erzdiözese einzurichten, weil er nicht zuletzt ein pastorales Schisma und eine Polarisierung befürchtete. Dies war auch der Grund, warum sie die Diözese Augsburg verlassen mussten; jetzt fanden sie bezeichnenderweise Aufnahme in der österreichischen Diözese St. Pölten. Wie man weiss, werden aber durch Bischof Haas solche Gruppierungen gefördert und auch neoklerikale Priesteramtskandidaten (zum Grossteil ohne Abitur) aufgenommen, denen zum Beispiel gewisse sogenannte konservative Bischöfe in Deutschland zu liberal sind. Hat dies alles nicht sehr bedenkliche Auswirkungen auf die künftige Pastoral der Diözese und auf die Qualität der Theologischen Hochschule Chur, die erst vor einiger Zeit einer kritischen Visite und Analyse durch die Bündner Regierung unterzogen wurde? 

Vollmar: Das Agieren von Bischof Haas, an verschiedenen Orten gewisse Gemeinschaften einzusetzen oder wenigstens zu unterstützen, oder auch die ganze Priesterausbildung in der Diözese Leuten zu übertragen, die polarisierend wirken, ist sehr schädlich für die Zukunft. Hier ist auch zu denken an die Unterstützung des Engelwerkes, an die Förderung von Werken und Unternehmungen der Pro-Ekklesia oder dann auch an das sehr starke Hervorheben vom Opus Dei. All das sind Bewegungen, die eigentlich hier in der Schweiz nicht allgemein angenommen sind, die polarisierend wirken. Und wenn ein solches Werk unterstützt wird, dann gibt es eben diese Spaltung. Dies ist gegenwärtig immer wieder feststellbar. Ich finde, selbst wenn einzelne Bewegungen – ich denke hier an das Opus Dei – nicht von vornherein abzulehnen sind, sie passen einfach nicht in unsere Landschaft. Ich habe darauf immer wieder aufmerksam gemacht, wurde dann deswegen vom Opus Dei stark angegriffen, aber ich glaube, die ganze Ausrichtung dieses Werkes ist nicht für den Schweizer etwas Tragendes. Es ist einfach keine Bewegung, die in die Mentalität der Schweizer passt. Wir brauchen in unserer Diözese, in den einzelnen Gemeinden – ich würde auch sagen in unserem Land – wirklich Bewegungen, die zusammenführen, die irgendwie die einzelnen zusammenbindend zusammenbringen können, die eben nicht polarisierend wirken. Das ist auch der Grund, warum ich immer wieder betone – was man leider oft falsch verstanden hat –, einen Priesteramtskandidaten oder späteren Priester würde ich ablehnen, wenn er polarisiert. Ein Priester muss in jedem Fall auf der Ebene einer Gemeinde Brückenbauer sein. Er hat alle irgendwie zu integrieren. Sobald er in einer Gemeinde nur eine Gruppe bevorzugt, dann ist er sicher fehl am Platz.

Was nun die Hochschule anbetrifft, so ist meine persönliche Sorge sehr gross – ich könnte hier auch das Seminar damit verbinden, wo ich fast gar keinen Einfluss habe. Es ist eben ein Seminar, das sehr einseitig ausgerichtet ist. Die ganze Ausbildung für später wurde den Einflüssen der Weihbischöfe entzogen, wir haben weder an der Hochschule noch im Seminar wirklich etwas zu sagen. Und das bringt es dann eben mit sich, dass gegenwärtig die Ausbildung sehr einseitig ist, dass dort zukünftige Seelsorger herangebildet werden, die sehr einseitig sein können. Wir machen bereits jetzt dahingehend Erfahrungen, dass junge Priester von Gemeinden abgelehnt werden. Und das lässt uns, wie gesagt, schon mit Sorge in die Zukunft blicken. Ich möchte hier vielleicht anfügen, dass dies ein Grund ist, dass ich auf Schweizer Ebene nun Seminarien, Ausbildungsstätten für zukünftige Seelsorger/innen suche, wo eine ausgeglichene Ausbildung gewährleistet ist, und die uns dann Seelsorger/innen schicken, die wirklich Brückenbauer sind. Und das ist an sich für mich das Entscheidende.

Um dem pastoralen Schisma glaubwürdig und einigermassen erfolgreich zu begegnen, hat man im Kanton Graubünden entgegen dem Willen von Bischof Haas die «Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken» einberufen. Wie wurde dieses Unternehmen institutionalisiert? Wie arbeitet es? Was wird thematisiert und was soll letztlich erreicht werden?

Vollmar: Ursprünglich ist diese Bewegung entstanden, noch bevor die beiden Weihbischöfe berufen waren, und es war ein Unternehmen, dessen Ziel noch darin bestand, die Absetzung des Bischofs zu erreichen. Die Bewegung hat sich dann weiterentwickelt. Ich persönlich habe schon ganz am Anfang diese Zusammenkunft, diese Tagsatzung sehr begrüsst. Dies war übrigens mein erstes Interview, und als ich dann nach Rom kam, hat man mir starke Vorwürfe deswegen gemacht. Aber für mich ist einfach eine dialogfähige und dialogwillige Kirche das Entscheidende. Und das verwirklicht die ,,Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken». Es ist – man könnte so sagen – ein echter synodaler Prozess, der hier begonnen hat. Jedesmal wenn ich an diesen Sitzungen teilnehme, bin ich begeistert von der Arbeit, die hier Priester und Laien, Männer und Frauen gemeinsam leisten. Wie gesagt, eine grossartige Möglichkeit, den Glauben zu reflektieren, Lösungen zu suchen, auch eine zeitgemässe pastorale Ausrichtung im Kanton Graubünden zu initiieren.

Was selbstverständlich die Arbeit etwas erschwert, ist die Tatsache, dass der Diözesanbischof diese Institution, diese Bewegung, diese Zusammenkunft nicht gutheisst und dies auch offiziell bekannt gibt. Aber er war mehr oder weniger gezwungen, seinen Weihbischof zu delegieren, doch machte er immer wieder darauf aufmerksam, dass er über diese Lösung nicht glücklich ist. Ich konnte aber, um gewissen Kritikern die Wirklichkeit zu zeigen, auf zwei Briefe verweisen, die mir der Nuntius geschrieben hat, und in denen er mich dringend bat, teilzunehmen; es sei der Wunsch von Rom, dass ich teilnehme. So bin ich eben in der Situation, wie es auch anderweitig der Fall ist, dass ich mich zwischen zwei Blöcken befinde: einerseits zwischen meinem Bischof, der eigentlich mein Vorgesetzter ist, andererseits dann Rom oder die Dekane oder die Priester oder das Volk Gottes. Da muss ich versuchen, wie ich diese Gratwanderung gut hinter mich bringe. Für mich nun ist diese «Tagsatzung», wie wir sie nennen, etwas Grossartiges. Ich sehe auch schon die Zukunft voraus und bin bereit, mich dafür einzusetzen, dass die Ergebnisse in den Gemeinden verwirklicht werden. Denn gegenwärtig sind wir ja in der Phase des Forschens. Wir versuchen die Fragen, die eigentlichen Probleme aufzuzeigen und Lösungen miteinander zu finden. Und diese Lösungen werden dann den verschiedenen Gremien vorgeschlagen.

Damit das Ganze nicht nur auf dem Papier bleibt oder in einer Schublade verschwindet, habe ich bereits vor einem Jahr begonnen, den kantonalen Seelsorgerat neu zu organisieren, indem ich ihm jährlich 20›000 Franken zukommen lasse und den Kanonikus Dr. Vitus Huonder, Alt-Generalvikar von Graubünden, beauftragt habe, diese Arbeit als Präsident zu leiten. Und so hoffe ich, dass von Seiten des Ordinariates keine Probleme gemacht werden und die Lösungen, die aufgezeigt werden und die auch möglich sind, schrittweise verwirklicht werden können. Das begrüsse ich persönlich sehr und ich danke auch allen, die hier teilnehmen, vor allem auch denjenigen, die uns da Unterkunft leisten, die dafür ein offenes Herz haben, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Entscheidend ist hier eben, dass echte Seelsorge im Kanton Graubünden sich verwirklichen lässt. Und ich erachte es als ein Hoffnungszeichen, dass nun andere Diözesen dieses Beispiel nachahmen wollen. Ich denke hier an die Diözese Basel, wo übrigens Bischof Prof. Kurt Koch eine Arbeit über die Tagsatzung im Kanton Graubünden begleitet, und ich denke auch an das Bistum St. Gallen. Beide Bistümer möchten so etwas Ähnliches ins Leben rufen.

Vor über zwei Jahren wurden Sie und Prof. Dr. Peter Henrici SJ von Rom zu Weihbischöfen in der Diözese Chur berufen und zu Generalvikaren postuliert, um die Situation im Bistum zu befrieden. Können Sie heute sagen, ob diese Wunschvorstellung des Vatikan Realität geworden ist? 

Vollmar: Seit drei Jahren sind nun zwei Weihbischöfe im Bistum Chur tätig. Wir versuchen, die Situation zu normalisieren, das heisst wirklich Vertrauen zu schaffen; denn ohne Vertrauen gibt es keine Zusammenarbeit, ohne Vertrauen gibt es keine Seelsorge. Und zwar bedeutet dies Vertrauen zwischen dem Bischof, den Bischöfen und dem Volk Gottes und den Priestern… Wenn ich so zurückschaue, sehe ich, dass wohl vieles sich geändert hat, das heisst es ist Vertrauen entstanden, aber dieses Vertrauen besteht eher zwischen den Weihbischöfen und dem Volk Gottes, die Priester eingeschlossen. Nicht aber zwischen dem Diözesanbischof und dem Volk Gottes. Hier also müssen wir sagen: die Wunschvorstellung des Vatikans ist nicht Realität geworden. Ich habe noch im letzten Jahr (Oktober/November) dreimal ganz kurz mit dem Papst sprechen können, habe ihm das auch gesagt, er weiss es, er hat mir dann einfach gesagt, er bete jeden Tag für das Bistum Chur. Ich hoffe, dass sich das Ganze ändert, aber ich glaube, und auch Bischof Wolfgang weiss das: Es wird nur einen Neubeginn geben, wenn ein anderer Bischof da ist. Ich glaube also, dass der Wunsch des Vatikans gerechtfertigt war. Man hat eine Lösung versucht, aber zwei Weihbischöfe, die als Generalvikare unter Bischof Haas arbeiten, das ist nicht die Lösung, die Ruhe und Vertrauen in diese Diözese zurückbringen kann. 

Wenn man mit einem gewissen objektiven Hintergrundwissen die Churer Bistumskrise überblickt, kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, dass diese zum einen, wie mein väterlicher Freund, der verstorbene Basler Bischof Prof. Dr. Anton Hänggi, immer wieder betonte, am Verhalten des Vorgängers, Bischof Vonderach, festzumachen ist, andererseits aber vor allem in der Person des Wolfgang Haas gründet. Denn wenn ein Priester gezielt dieses hohe verantwortungsvolle Amt eines Bischofs anstrebt und zur Untermauerung unter anderem sich zweimal unberechtigt den Grad eines Dr. theol. anmasst und zulegt, dann fehlen doch ganz entscheidende spirituelle Voraussetzungen, die durch eine äusserlich aufgemachte Frömmigkeit nicht kompensiert werden können. Mir nahestehende Bischöfe haben im persönlichen Gespräch verschiedentlich zum Ausdruck gebracht, dass sie das sture Sich-Festklammern am Amt sowie das Verhalten und Agieren von Bischof Haas für verantwortungslos halten. Sehen Sie Chancen und Möglichkeiten, ob und wie die «Churer Wirren» einer für beide Seiten guten und menschlich anständigen Lösung zugeführt werden können? 

Vollmar: Wenn ich die Situation überblicke, und zwar seit den 60er Jahren, dann glaube ich, dass die ganze Problematik, die Spannungen, die Uneinigkeit, der Mangel an Vertrauen, all das, was wir heute haben, schon auf viel früher zurückzuführen ist. Es war tatsächlich so, dass zur Zeit von Bischof Johannes Vonderach dieser Mangel an Vertrauen herrschte. Ich kannte ihn sehr gut, er war ja unser Schüler, Schüler der Marinisten in Altdorf, und ich hatte auch manches persönliche Gespräch mit ihm. Er fühlte sich immer zurückgedrängt, nicht angenommen, überwacht. Und deswegen ist dann diese Ernennung von Bischof Wolfgang Haas auf Hinwirken von Bischof Johannes eigentlich ein weiterführender Akt. Er wollte auf diese Art und Weise einfach – man könnte fast auch sagen – die Diözese etwas bestrafen. Bischof Wolfgang Haas hat diesen Auftrag sehr gern entgegengenommen. Er hatte eigentlich immer die Vorstellung, dass er als Bischof wirken möchte, und hat sich dann einfach fast manipulieren lassen.

Wenn er mir beispielsweise erzählt, dass er nicht einmal seine Arbeit in Rom beenden konnte, wie er dann schon als Kanzler berufen worden ist, dann das Doktorat, das wohl eine Absicht war, die er hatte, aber die er nicht verwirklichen konnte. Und dass aus diesem Grund auch gewisse Absichtserklärungen fast als Wirklichkeit dahingestellt worden sind. All das erklärt sich in einem gewissen Sinn. Es ist eine gewisse – man könnte fast sagen – Naivität vorhanden.

Auch das jetzige Festklammern an diesem Posten, obwohl viele ihm gegenüber betonen: «Schau’, es wäre doch besser, du würdest eine andere Arbeit wählen.» Für mich persönlich ist hier der Einfluss von engeren Vertrauten entscheidend. Ich glaube an sich, dass Bischof Wolfgang Haas hier ohne weiteres auch in eine andere Richtung gehen könnte. Aber er wird immer wieder von engen Mitarbeitern gedrängt, auf dieser Linie weiterzumachen. Es sind dies Vertraute, die ein ganz bestimmtes Bild von Kirche haben, für die einfach die Kirche Schweiz, das Bistum Chur, gewisse Dekanate, einen ganz falschen Weg gehen. Die Kirche gehe dem Untergang entgegen, wenn wir sie nicht reformieren. Und dazu wollen wir eben unsere Arbeit leisten – so sagen diese Mitarbeiter um Wolfgang Haas. Und diese «Reformation» bestehe darin, dass man zuerst beginnen muss, eine neue Priestergeneration heranzubilden, um mit dieser dann die Kirche neu zu gestalten, zu «erneuern». Die anderen, die gegenwärtig pastoral tätig sind, seien, wie diese Leute oft sagen, «Auslaufmodelle», die verschwinden werden. Hier treten selbstverständlich ideologische Vorstellungen ans Licht. Und ein Zusammenprall – das kann nicht gut gehen. Für mich persönlich wäre es das beste, dass Bischof Wolfgang eine Arbeit findet, die ihn beglückt. Er hat viele Fähigkeiten, die er dann eigentlich einsetzen könnte. Und wenn man ihm die Möglichkeit geben würde, und er sie annähme, könnte man sicher etwas Gutes bewirken. Für mich persönlich gilt: Wenn jeder Mensch an dem Platz ist, wo Gott ihn hinberufen hat, dann kann er sich entfalten und glücklich sein. Das beziehe ich auch auf Bischof Wolfgang Haas.

Umstrittene Bischofsernennungen sowie andere Vorgänge und höchste Verlautbarungen haben in der katholischen Kirche einen Problemstau entstehen lassen, der dann die Kirchenvolksbegehren der letzten Zeit provoziert hat. Deren Inhalte kreisen allerdings fast ausschliesslich um binnenkirchliche Strukturfragen. Greifen nicht solche Initiativen, so berechtigt sie sein mögen, angesichts der religiösen Lage im säkularisierten Europa zu kurz?

Vollmar: Wir haben auf unserer letzten Bischofskonferenz in Einsiedeln diese ganze Situation der Kirche Schweiz besprochen; Kirche Schweiz, die ein Teil Europas ist. Wir haben hier gesagt, dass wir uns doch mühen müssen, hier Öffnungen herbeizuführen. Was wir nun als Problem immer wieder festgestellt haben, auch bei den sogenannten Petitionen der Schweizer Katholiken, sind vor allem drei Schwerpunkte: Wir haben das Problem des Zölibates, das immer wieder angesprochen wird, zweitens das Problem der Frau in der Kirche und drittens die Art und Weise, wie wir in der Kirche Autorität ausüben. Ich persönlich sehe ganz realistisch diese Probleme, aber ich glaube, die Lösung all dieser Probleme, das Wesentliche ist eben ein Zurückfinden zu einem Glauben an Jesus Christus, zu einem Glauben an eine Kirche, die das Heil verkündet im Namen Jesu. Wir müssen es fertigbringen, in den einzelnen Gemeinden, in den einzelnen Christen, in diesen Personalbeziehungen wiederum den Glauben zu wecken und zu stärken. Dann werden wir auch all die anderen Probleme angehen können. Für mich ist aber entscheidend das Glaubensleben, der Glaube an den Gott, der uns Menschen zugewandt ist.

Vor zwei Tagen hatte ich eine Aussprache mit jungen Christen, mit Firmlingen; da kam wiederum die Frage: Ja, Gott, was ist das eigentlich? Christentum, was ist das eigentlich? Wir ziehen den Buddhismus vor. Und ich musste ihnen dann eben doch mal kurz aufzeigen – und dies tat ich in der Predigt –, dass im Christentum eben der menschgewordene Sohn Gottes das Entscheidende ist, in dem sich uns Gott zuwendet. Und wenn ein junger Mensch dieses Einzigartige einmal in seinem Innersten erfasst hat, diese Zuwendung Gottes erfahren hat, sich geliebt weiss von Gott, dann können alle Probleme, die vorhanden sind, Probleme des Gottesdienstes, Probleme des Zölibats und so weiter – ich sage nicht gelöst werden, das wäre zu einfach – angegangen werden. 

Für mich aber entscheidend ist das Vertrauen, die Beziehung zu Gott. Wenn ich diese pflegen kann, wenn ich da schon bei jungen Christen beginnen kann und dann bei älteren, wenn diese Beziehung ernst genommen wird, wachsen kann, sich entfalten kann, dann können wir auch gemeinsam über solche Probleme sprechen. Und das ist für mich das Entscheidende. Es entsteht der Dialog. Und wo Dialog ist, und zwar ein Dialog in Liebe, dann bin ich sicher, dass wir auch in Zukunft all diese Probleme, die uns bedrängen, angehen können. Und dann sind wir auch fähig, in Spannungen leben zu können. 

Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland leben über 20 Millionen ungetaufte Mitbürger und einige Millionen Taufscheinchristen, die mit Kirche nichts mehr am Hut haben. Darunter ist aber gewiss ein hoher Prozentsatz, der auf der Suche nach Transzendenz und Lebenssinn ist. Der Zürcher Soziologe Gerhard Schmidtchen hat unlängst anhand einer Erhebung herausgefunden, dass 4-5% der Ungetauften in der ehemaligen DDR bereit wären, sich taufen zu lassen. Die Situation in der Schweiz dürfte sicher ganz ähnlich sein. Welche Angebote an Feierformen und Begegnungen machen aber wir als Kirche und Christen diesen suchenden Menschen? Haben wir überhaupt noch eine missionarische Option oder sind wir viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt?

Vollmar: In der Tat dürfte die Situation der Kirche Schweiz ähnlich sein wie in Europa, auch wenn es vielleicht nach aussen nicht so augenscheinlich ist. Aber wenn man etwas hineingeht ins Volk Gottes in den einzelnen Pfarreien, stellt man fest, wie sich mehr und mehr die Kirchen leeren und die sogenannte Praxis sehr, sehr wenig noch vorhanden ist. Es gibt noch einzelne Täler oder Dörfer gewisser Kantone, in denen die Praxis nach aussen hin gross ist, aber es ist eher ausgehöhlt. Es ist also kein – ich würde sagen – wirklich bewusstes Leben aus dem Glauben heraus, was wir eigentlich von getauften und gefirmten Christen erwarten sollten und erwarten könnten. In dieser Situation dürfen wir uns vor allem nicht mit uns selbst beschäftigen. Dieser Vorwurf gilt besonders einer kirchlichen Nabelschau, wie man sie oft und oft praktiziert. Wenn ich heute an verschiedene Gremien denke, vom obersten Gremium angefangen bis zu allen diesen einzelnen Versammlungen und Kommissionssitzungen, dann geht es sicher immer um Kirche.

Gegenwärtig geht es darum, wie kann man die finanziellen Engpässe überwinden, wie kann man zu mehr Geld kommen. Doch vergisst man gerade wegen des Geldes das Missionarische, sei es innerhalb der Schweiz, sei es auch ausserhalb der Schweiz. Nebenbei bemerkt habe ich mich deshalb aus verschiedenen Kommissionsgremien zurückgezogen, weil ich einfach nicht Zeit habe, darüber nachzudenken, welche Aktionen braucht es, damit mehr Geld reinkommt. Aber eben dieses innere Sich-Selbst-mit-Sich-Beschäftigen, dieses Egoistische führt nicht weiter. Ich glaube, das pastorale Element, die Seelsorge, müssen wieder zum Zentrum werden. Wenn man in das Evangelium schaut, dann war das Entscheidende: «Dein Reich komme»; das war der Wunsch. Da ging es nicht um Strukturen, um Formen und so weiter, sondern es ging wirklich um das Reich Gottes, um den Menschen. Christus ist den einzelnen nachgegangen, und das ist heutzutage sehr oft nicht der Fall. Ich möchte hier nicht übertreiben und nicht verallgemeinern, aber ich glaube, sagen zu können, dass die pastorale Dimension doch klein geschrieben ist. So wäre eben mein Wunsch, dass Seelsorge wirklich wieder entscheidender wird. Das heisst dann auch ganz konkret, dass wir die Situation von Ungetauften ernst nehmen und uns um Angebote mühen, wie man mit solchen potentiellen

Christen umgehen kann. Wenn so viele Abwanderungen in andere Religionen geschehen, dann zeigt das eine Sehnsucht des Menschen nach etwas anderem an.

Aber wir hier in der Kirche Schweiz haben einfach die früheren Formen beibehalten, die alten Schläuche, mit denen wir gegenwärtig nicht mehr ankommen. Und es gibt sehr, sehr wenige, die das sehen und versuchen, etwas Neues zu finden.

Das wäre auch mein Wunsch, dass wir auf europäischer Ebene miteinander Wege suchen. Ich denke da ganz konkret an die Kirche in Frankreich, ich denke auch an die Kirche in Italien. Die Situationen sind selbstverständlich ganz verschieden, aber wir sollten miteinander Lösungen finden, um den heutigen suchenden Menschen helfen zu können. Dass hier selbstverständlich zuerst einmal die vorkatechumenalen oder diese Formen der Vorkatechese entscheidend sind, ist sicher wichtig, aber wir sollten da nicht stehen

bleiben, sondern auf das Wesentliche zugehen.

Der Dresdner Theologe Albert Franz sagte vor kurzem in einem Interview der «Herder-Korrespondenz», dass die Kirche viele neue Chancen, die sie heute hat, nicht nutzt, weil vor allem das Vertrauen in die eigene Sache zu wünschen übrig lässt. Sehen Sie Möglichkeiten, aus dieser Engführung herauszukommen?

Vollmar: Was ich immer wieder angetroffen habe, was ich immer wieder erfahren durfte, ist das Vertrauen, das Vertrauen der Menschen. Das bedeutet für mich, dass im Inneren jeder Mensch das Gute möchte, und dass er wirklich auch als Christ leben möchte. Ich glaube, diese Sehnsucht Gottes nach dem Menschen spiegelt sich in der Sehnsucht des Menschen nach Gott wider. Das ist für mich auch die grosse Hoffnung. Ich muss sagen, dass ich mich dadurch immer wieder getragen weiss.

Auch in der jetzigen Situation, die für mich schon etwas ganz Unerwartetes war, und wo man nicht verwöhnt wird durch sogenannte äussere Erfolge, trägt mich das Vertrauen, und zwar von allen Schichten, von allen Menschen, von einfachen Gläubigen, von Kindern, Jugendlichen und Priestern, von den Mitbischöfen. Und hier sehe ich an sich die grosse Chance, die da ist, dass wir trotz allem zu einem guten Ende kommen werden, dass wir trotz allem aus dieser Engführung herauskommen. Vertrauen ist für mich dann wirklich ein Anfang des Glaubens. Und wo Glaube ist, wo diese Offenheit vorhanden ist, wo diese fast gegenseitige Zuneigung ist – man könnte es auch als Liebe bezeichnen –, da ist sicher auch Hoffnung gewährleistet, so dass wir diese Haltung, diese Grundhaltung eines Glaubens, die Liebe irgendwie in allen Menschen spüren, ob sie nun zur Kirche gehören oder ob sie ausserhalb der Kirche leben; in jedem Menschen ist etwas, das sich nach dem Guten sehnt.

Wenn wir dort anknüpfen können, dann ist die Möglichkeit gegeben, wirklich wieder zu einem blühenden Christentum zu kommen. Und das ist es eigentlich, was ich mir auch für die Diözese Chur und für die Kirche Schweiz, für die Kirchen in ganz Europa und der ganzen Welt wünsche.

Herr Weihbischof, ich danke für dieses offen-ehrliche Gespräch.

Das Gespräch führte Prof. Dr. Karl Schlemmer (Nürnberg/Passau).

Quelle: Karl Schlemmer, Seelsorge in komplizierten Verhältnissen: Interview mit Weihbischof Dr. Paul Vollmar (Chur). In: Anzeiger für die Seelsorge 11/1996, S. 560–565.