Missverständnisse im Gebärsaal

Werdenden Müttern in der Schweiz steht ein hoch professionelles Versorgungssystem zur Verfügung. Fremdsprachige Frauen können davon aber oft zu wenig profitieren – mit teils tragischen Folgen.

Kaiserschnitt, Abtreibung, Unterbindung: Viele fremdsprachige Frauen verstehen die Eingriffe nicht. Foto: Javier Valenzuela (Getty)

Ein Einzelfall? Gemessen an der Zahl der Schwangerschaften: Ja. Und doch: Was der jungen Eritreerin passiert ist, kommt immer wieder vor. Das sagt Fana Asefaw. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und leitet bei der Clienia in Winterthur eine Traumasprechstunde für Migranten. Sie sagt: «Derzeit betreue ich gleich zwei fremdsprachige Frauen, die ungewollt eine Schwangerschaft beendet haben, weil ihnen nicht klar war, was für Tabletten sie vom Arzt bekommen hatten.»

Psychische Folgeschäden

Viele der Hilfesuchenden in Asefaws Sprechstunde sind junge Frauen, die von verstörenden und tragischen Erlebnissen während einer Schwangerschaft oder einer Geburt berichten. Auslöser sind kulturelle und sprachliche Verständigungsschwierigkeiten. Die Ärztin hat Klientinnen, die nach einem Kaiserschnitt einer Unterbindung zustimmten – im Glauben, eine solche Operation sei rückgängig zu machen. Andere leiden nach einem Kaiserschnitt, dessen Grund sie nicht verstanden haben, unter einer postnatalen Depression.

Was Asefaw beobachtet, bestätigt eine Studie, welche die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zusammen mit der Berner Fachhochschule und dem Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institute durchführte. Die Forscherinnen befragten junge Mütter aus Eritrea, dem Kosovo und Albanien zu ihren Erfahrungen rund um Schwangerschaft und Geburt. Die Erkenntnis: Für viele fremdsprachige Frauen sind Angebote rund um die Geburtshilfe kaum zugänglich. Ihre medizinische Versorgung ist weniger gut, und Komplikationen sind häufiger. Es drohen psychische und psychosomatische Folgeschäden, die mit einer besseren Verständigung vermeidbar wären.

Fehlerhafte Übersetzung durch Angehörige

Doch Dolmetscher sind teuer, die meisten Betroffenen können sich deren Dienste nicht leisten, und die Krankenkassen zahlen nicht dafür. Oft müssen Angehörige dolmetschen, was gerade bei schweren Komplikationen riskant ist. So kommt es vor, dass der Ehemann nicht korrekt übersetzt, weil er den Sachverhalt selbst nicht verstanden hat, er die werdende Mutter schonen möchte oder einen Eingriff selbst ablehnt.

Immerhin setzen manche Spitäler auf eigene Rechnung Dolmetschende ein, wenn es nötig erscheint. So führt das Spital Triemli bei Asylbewerberinnen routinemässig mindestens eine Schwangerschaftskontrolle durch, bei der eine Dolmetscherin übersetzt. Viele schwangere Migrantinnen erhalten aber nie eine Beratung in ihrer Muttersprache. Auch in Notfällen ist eine Übersetzung nicht gewährleistet, sagt Barbara Bass, leitende Ärztin am Triemlispital: «Dann kommunizieren wir mit Händen und Füssen.» Das gehe meist erstaunlich gut.

Eine Aussage, die Jessica Pehlke nicht gelten lässt. Sie ist Mitautorin der Studie und Leiterin der Forschungsstelle Hebammenwissenschaft an der ZHAW. Gemäss der Studie passieren wegen fehlender Verständigung immer wieder gravierende Missverständnisse, Frauen berichten von traumatischen Erfahrungen. «Das Grundrecht, in eine medizinische Massnahme einzuwilligen, ist vielfach nicht gewährleistet», sagt Pehlke.

«Im Nachhinein sollten die Frauen eine Erklärung bekommen, warum ein Eingriff nötig war.»Jessica Pehlke, Mitautorin ZHAW-Studie

Die Studie enthält erschütternde Berichte. Eine Albanerin beschreibt ihre Ohnmacht kurz vor einer Notoperation: «Mir wurde gesagt, ich hätte zu viel Blut verloren, es sei kritisch. Ich habe nichts verstanden. Ich musste operiert werden und musste etwas unterzeichnen. Ich habe einfach blind unterzeichnet, verstanden habe ich nichts. Ich wusste nicht, lebt mein Baby noch, oder ist es schon tot.» Eine Eritreerin schildert einen Schwangerschaftsabbruch: «Was sie unter sich besprochen haben, habe ich nicht verstanden. Bis heute habe ich keine Erklärung dafür, warum das alles gemacht werden musste.» Und eine Fachperson berichtet über eine Notoperation: «Ich hatte das Gefühl, die Frau zu vergewaltigen. Es war grauenvoll, so grenzüberschreitend, und man kann ihr nicht sagen, warum und wieso.»

Pehlke kann nachvollziehen, dass im Notfall nicht immer ein Übersetzer verfügbar ist. Aber: «Im Nachhinein sollten die Frauen eine Erklärung bekommen, warum ein Eingriff nötig war.» Ärztin Bass stimmt zu. Routinemässig biete das Triemli solche Gespräche aber nicht an: «Das wäre zu aufwendig und teuer. Aber wenn wir spüren, dass das Erlebte für eine Frau schwierig zu verarbeiten ist, versuchen wir im Nachhinein eine Dolmetscherin zu organisieren.»

Für Jessica Pehlke und Fana Asefaw ist klar: Dolmetschen müsste im Spital und ambulant eine Kassenleistung sein, und zwar schon während der Schwangerschaft und danach auch im Wochenbett. Sie sind überzeugt, dass sich das auszahlen würde, weil sich etliche teure Komplikationen und Folgeschäden vermeiden liessen. Ideal wäre aus Sicht der Fachfrauen ein Case-Management-System: Kulturdolmetscherinnen würden in einem solchen System die Migrantinnen begleiten und beraten, und sie wären wenn nötig auch Ansprechpartnerinnen für Fachleute. Denn so ausgeklügelt hoch spezialisierte Angebote rund um die Geburtshilfe sind, so schwierig ist es für Migrantinnen, sich darin zurechtzufinden. Selbst Frauen, die gut Deutsch sprechen, haben Mühe, den Überblick zu bewahren: Wann ist der Gynäkologe zuständig, wann die Hebamme, wann die Mütterberaterin?

Vor allem aber können die vielen Schnittstellen ein medizinisches Risiko darstellen, sagt Pehlke: «Mit jedem Wechsel drohen wichtige Informationen verloren zu gehen, weil es für die Frauen schwierig ist, diese weiterzugeben.»

2,5-mal mehr Abtreibungen

Beginnen müsste die Beratung möglichst schon im Asylbewerberheim, findet Asefaw. In vielen Kulturen seien Gespräche über Sexualität tabu, weshalb sich die Frauen kaum trauten, Fragen zu stellen. Zwar liegen in vielen Unterkünften Kondome bereit. Aber an Kontrazeptiva wie Pille oder Spirale zu kommen, die ihnen eine eigenständige Verhütung ermöglichen, ist für Asylbewerberinnen schwierig. Denn Kontrazeptiva sind – anders als Abtreibungen – nicht kassenpflichtig, und den Frauen fehlt das Geld dafür. Die Folge: Unter Asylbewerberinnen ist die Abtreibungsrate 2,5-mal höher als in der übrigen Bevölkerung.

Auch während der Schwangerschaft plädieren Pehlke und Asefaw für eine frühe, enge Begleitung. Geflüchtete Frauen gelten als Risikogebärende. Viele erlebten sexuelle Gewalt. Ein Umfeld, das sie auffangen kann, haben wenige, ihre Lebensumstände sind prekär. Afrikanerinnen sind häufig beschnitten, was eine natürliche Geburt erschwert.

«Die Frauen können umdenken, wenn man ihnen erklärt, dass es das Ziel unserer Medizin ist, ihnen zu helfen.»Fana Asefaw, Fachärztin

Vorgeburtliche Kontrollen könnten Schwierigkeiten früh aufzeigen. Dennoch nehmen viele Migrantinnen diese Dienstleistung nicht in Anspruch. Auch das hat mit fehlenden Informationen zu tun, wie die Studie zeigt. Viele wissen nicht, dass Schwangerschaftskontrollen kostenlos sind. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede: Pränatale Tests, bei uns eine Selbstverständlichkeit, gelten in anderen Kulturen als Zumutung.

Bei den Vorstellungen, wie eine Geburt ablaufen soll, prallen mitunter ebenfalls Welten aufeinander. «Unsere Mütter gebären zehn Kinder, ohne Medikamente, ohne Hilfe, und alles geht gut. Man versteht nicht, warum das in der Schweiz nicht so ist», zitiert die Studie eine Eritreerin. Ärztin Bass sagt: «Westliche Frauen haben eine sehr klare Erwartung, wie eine Geburt ablaufen soll. Erkundige ich mich hingegen bei Migrantinnen danach, wissen sie oft nicht, was die Frage überhaupt soll.» Die Möglichkeit von Komplikationen ziehen sie kaum in Erwägung.

Für Asefaw müsste das nicht sein: «Die Frauen und ihre Angehörigen können umdenken, wenn man ihnen erklärt, dass es das Ziel unserer Medizin ist, ihnen und ihrem Kind zu helfen – selbst wenn dazu ein Eingriff nötig ist. Aber das braucht Zeit und Engagement.» Zeit, die zur Verfügung stünde: Eine Schwangerschaft dauert neun Monate. Man müsste sie nur nutzen.

Studie: «Barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Vorsorge». www.zhawstudie.tagesanzeiger.ch (Tages-Anzeiger)

Tages-Anzeiger
18. November 2017 | 08:12