«Mami, sag mir die Wahrheit»

Am Limit: Eine Mutter gibt Einblick in ihr Leben mit einer unheilbar kranken Tochter. Sie zeigt, dass palliative Pflege viel mehr ist als Begleitung in den Tod. Und dass die Schweiz darüber reden muss, was sie betroffenen Familien zumutet.

Liliane Minor

Noelle sitzt auf dem Sofa und schaukelt vor und zurück, ihre Händchen greifen ins Leere. Was ihre grossen dunklen Augen wohl noch sehen können? Was nimmt die Achtjährige noch wahr? Niemand weiss es. Ihre fünfjährige Schwester Celine hüpft um sie herum, kitzelt sie und schafft es, ihr ein Lächeln zu entlocken. «Ich bin sicher, dass Noelle alles versteht», sagt ihre Mutter.

Noelle war nicht immer so. Als Dreijährige ist sie ein aufgewecktes Kind, das ständig herumrennt, gern lacht und viel redet. Doch dann erkrankt sie an einer hartnäckigen Mandelentzündung – möglicherweise der Vorbote einer tückischen, genetisch bedingten Stoffwechselstörung namens NCL, umgangssprachlich Kinderdemenz genannt.

Die Ärzte beschliessen, die Mandeln zu entfernen. «In sechs Monaten sei sie wieder gesund, sagten sie mir», erinnert sich Noelles Mutter, Patricia Vernier. Eigentlich heissen die Verniers anders. Ihre richtigen Namen sollen hier nicht genannt werden, damit die Kinder nicht jahrelang mit ihrer Geschichte im Internet auffindbar sind.

Noelle wird operiert, doch sie erholt sich nicht. Stattdessen hat sie plötzlich Mühe, sich zu konzentrieren. Und es fällt ihr immer schwerer, Treppen zu steigen. «Als hätte sie Spaghetti-Beine», erzählt die Mutter. Ein MRI zeigt eine unklare Veränderung im Gehirn. Die Eltern leiden, zittern, bangen. Nach einem Gentest erhalten sie im Zürcher Kinderspital die niederschmetternde Diagnose.

NCL führt dazu, dass die betroffenen Kinder nach und nach alles verlernen; das Erwachsenenalter erreichen die wenigsten.

Noelle kann bald nicht mehr gehen. Es ist für die Familie eine aufreibende Zeit, weil das Mädchen den Zerfall anfangs bewusst miterlebt, viel weint. Drei Jahre später ist Noelle nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie kann nicht mehr gehen und reden, sie muss gefüttert, gewickelt, gewaschen, getragen, gebadet werden. Und sie sieht fast nichts mehr.

Tausende Betroffene …

Noelle ist eines von schätzungsweise 1800 Kindern im Kanton Zürich und etwa 5000 Kindern landesweit, die palliative Pflege brauchen. Wobei die Zahl laut Fachleuten auch deutlich höher liegen könnte. Sicher ist: Palliativpflege für Kinder ist eine wenig beachtete, oft unterschätzte und missverstandene Disziplin.

«Viele Menschen sehen vor ihrem inneren Auge ein krebskrankes, kahlköpfiges Kind im Spitalbett, wenn sie von palliativer Pflege für Kinder hören», sagt Alexandra Gächter von der Stiftung Pro Pallium. Aber das sei ein falsches Bild. Bei der Palliativpflege für Kinder gehe es nicht nur um Linderung am Lebensende. Sondern um oft jahrelange Unterstützung für Mädchen und Buben mit sogenannt degenerativen, lebenslimitierenden Krankheiten. Also Krankheiten, die zu einem langsamen Abbau und schliesslich zu einem frühen Tod führen.

Dazu gehören neurologische Krankheiten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und schwerste Epilepsien. Auf sie beziehen sich auch die genannten Zahlen. Viele betroffene Kinder haben nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen; oft zieht sich das Leiden über Jahre hin. Und die Medizin kann oft nicht mehr bieten als Linderung.

Pro Pallium vermittelt Freiwillige, welche die Eltern einmal pro Woche für ein paar Stunden entlasten. Alexandra Gächter, gelernte Pflegefachfrau, arbeitet als Regionalleiterin Ostschweiz für die Stiftung; ihre Aufgabe ist es, eine «passende» Helferin – die meisten der insgesamt 200 Ehrenamtlichen sind Frauen – zu finden. Manche kümmern sich ums kranke Kind, damit die Eltern mal Zeit für sich haben. Andere nehmen sich der Geschwister an, die oft zu kurz kommen.

… aber keine Lobby

«Was die Gesellschaft diesen Familien zumutet, ist übermenschlich», sagt Gächter. Marc Delaquis, Co-Geschäftsführer von Pro Pallium, bestätigt das. Zwar sei die medizinische Behandlung hierzulande hervorragend; selbst mit schwersten Krankheiten können Kinder jahrelang überleben. Aber «die Medizin fokussiert bis heute zu sehr aufs Reparieren und zu wenig aufs ganzheitliche Wohlbefinden.» Dass Kinder sterben dürfen, weil es keine Heilung gebe, sei noch zu wenig vorgesehen.

«Wir bekommen manchmal Anrufe von Eltern, die uns um Hilfe bitten, weil sie aus ethischen Gründen nicht mehr hinter dem stehen können, was die Ärzte ihnen vorschlagen», sagt Delaquis. Das sei äusserst belastend, auch weil ein riesiges Wissensgefälle bestehe zwischen Eltern und Medizinern.

Patricia Vernier kennt das. Die Ärzte wollen Noelle einen direkter Magenzugang implantieren, über den sie mit Nahrung versorgt werden kann. «Aber sie kann noch schlucken», sagt ihre Mutter, «und ich merke doch, dass sie das Essen mag. Soll ich ihr das nehmen? Wo doch jeder Sinnesreiz wichtig ist für sie?» Sie hat Angst, dass Noelle aufhört zu essen, wenn erst einmal die Sonde da ist. Anderseits: Noelle ist viel zu leicht. Und irgendwann wird sie das Schlucken verlernen.

Es sind aber nicht nur solche medizinischen Entscheidungen, welche die Eltern an den Rand des Erträglichen bringen können. Marc Delaquis nennt drei Hauptprobleme, mit denen die Familien zu kämpfen haben. Erstens führt die heutige Spitzenmedizin zu einem Drehtüreffekt. Das heisst, die Kinder werden hospitalisiert, wenn sie eine schwere Krise erleiden – und sobald sie stabil genug sind, wieder heimgeschickt. Bis zur nächsten Krise.

Ständiger Kampf ums Geld

Das führt zu einem aufreibendes Hin und Her. Im Spital ist für alles gesorgt, die Kleinen erhalten Physio- und Ergotherapie, den Eltern stehen Sozialdienst und Seelsorge zur Verfügung. Zurück daheim, müssen Mütter und Väter alles selbst regeln: Spitex organisieren, IV-Anträge ausfüllen, das Kind in Therapien bringen, Handgriffe lernen, Hilfsmittel auftreiben. «Es fehlt eine Anlaufstelle für diese Eltern, ein Case Management auch ausserhalb der stationären Aufenthalte», sagt Delaquis.

Das zweite Hauptproblem ist eine direkte Folge davon: Die meisten betroffenen Eltern laufen finanziell am Limit. Ein schwer krankes Kind ist ohnehin teuer. Oft müssen die Familien auf einen Teil ihres Einkommens verzichten, weil sich ein Erwachsener dauerhaft der Pflege widmen muss. Die Sozialversicherungen decken längst nicht alle Kosten. Und viele Eltern wissen mangels Beratung nicht, auf welche Leistungen sie Anspruch haben.

«Eine Mutter erzählte mir kürzlich, der grösste Frust sei es gewesen, dass sie nach dem Tod ihres Kindes erst herausgefunden habe, worauf sie alles auch noch Anrecht gehabt hätte», sagt der Pro-Pallium-Geschäftsführer. Eine andere Familie, die sich an Pro Pallium gewendet hat, weiss nicht, wie sie die Sensoren zahlen soll, die nötig sind, um ihr Kind rund um die Uhr zu überwachen. Die IV zahlt seit einer Revision der Hilfsmittelliste nichts mehr daran. Delaquis: «Es kann doch nicht sein, dass sich Familien mit einem todkranken Kind notgedrungen in finanzielle Schieflage begeben müssen – nur damit Spitäler und Versicherungen Kosten sparen.»

Das dritte grosse Problem: die Belastung für die Partnerschaft. «Es gibt nicht wenige Paare, die sich in einer solchen Situation trennen.» Das aber macht die Belastung noch grösser.

Ehe hielt nicht stand

Auch Patricia Verniers Ehe hielt der Diagnose und Noelles fortschreitender Krankheit nicht stand. Ende 2020 trennten sich die Eltern. Jedes zweite Wochenende sind die Mädchen beim Vater, ansonsten ist die Mutter allein für sie da. Patricias Verwandte leben im Ausland, sie können die 44-Jährige nicht unterstützen.

Seit wenigen Wochen kümmert sich ein Nachmittag pro Woche eine Freiwillige von Pro Pallium um die beiden jüngeren Mädchen, damit die Mutter die Grosse in die Spieltherapie bringen kann. Es ist eine riesige Entlastung für die Mutter: «Vorher musste ich jeweils mit allen dreien mit dem ÖV quer durch die Stadt nach Oerlikon fahren – ein Dauerstress, wenn ein Kind auf den Rollstuhl angewiesen ist.»

Patricia Vernier, das wird im Gespräch schnell klar, läuft am Limit. Finanziell, weil die Handelsfachfrau nicht auch noch arbeiten kann. Sie und ihre Töchter leben von Alimenten und der Hilflosenentschädigung der IV für Noelle. Und sozial, weil sie fast keine Zeit für sich hat. Ein Kaffee mit Freundinnen? Liegt kaum je drin.

«Akzeptieren? Nie»

Dabei braucht nicht nur Noelle ihre ganze Aufmerksamkeit. Da ist ja auch Celine, ein Wildfang mit Wuschelkopf, die zwar im Kindergarten ist, aber kaum reden kann. Auch sie trägt das fatale Gen in sich. Seit letztem Sommer weiss die Mutter davon, seither macht sie sich Vorwürfe, dass sie die Kleine hat testen lassen. «Sie ist doch gesund», sagt sie, und es klingt fast trotzig.

Und dann ist da Vivienne, die ihre ganz eigene Bürde trägt, die in der Schule keine Freundinnen findet und unter der Trennung der Eltern so leidet, dass sie einmal pro Woche in die Spieltherapie muss – die noch immer hofft, dass Noelle wieder gesund wird. Kürzlich fragte sie ihre Mutter: «Mami, sag mir die Wahrheit, wird Noelle wieder gesund?» «Das weiss niemand», antwortete diese.

Mehr will sie ihrer Ältesten nicht zumuten. Und sich selbst auch nicht. «Als Mutter kannst du nicht akzeptieren, dass es keine Heilung gibt. Niemals.»

Wie sie das aushält? Sie zuckt mit den Schultern, ihre Augen füllen sich mit Tränen: «Ich muss stark sein und für meine Töchter kämpfen. Ich habe keine Wahl.» Alles, was ihr bleibe, sei der Versuch, die verbleibende Zeit zu geniessen.

Patricia Vernier (Namen geändert) und ihre Töchter Vivienne, die schwer kranke Noelle und Celine (von links). Im Stehbett trainiert Noelle ihre Motorik. Foto: Silas Zindel

«Was die Gesellschaft diesen Familien zumutet, ist übermenschlich.»

Alexandra Gächter Pro Pallium

Tages-Anzeiger
3. Mai 2023 | 08:51