Das Interdis-Team und die zwei begleitenden Professoren: (von links nach rechts) Prof. Joachim Negel, Micha Weiss, Lazer Preldakaj, Prof. Barbara Hallensleben, Desiré Ngwene, Damian Diethelm, Benjamin Vaytet

Leben in Andersheit

Medienmitteilung
Interdisziplinäre Woche der Studierenden an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (23.-26. Oktober 2017). Nach einer bewährten Tradition dürfen Studierende der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg einmal pro Jahr eine Studienwoche selbst organisieren, angefangen mit der Wahl des Themas. Auch für das Jahr 2017 hatte sich ein zweisprachiges Team von Studierenden gefunden.

Anlass bot das 500. Gedenkjahr der Reformation, zugleich auch die Pluralität christlicher Traditionen in der Studierendenschaft der Theologischen Fakultät selbst. Das ökumenische Thema wurde in einem weiteren theologischen Horizont situiert: «Vivre l’altérité / Leben in Andersheit». Dieses Thema hat zugleich eine gesellschaftliche Aktualität: Wieviel Andersheit verträgt ein friedliches Zusammenleben? Wieviel Identität sind wir bereit und fähig preiszugeben? In diesem Rahmen gewinnt die ökumenische Frage neue Brisanz: Wo ist Andersheit Ausdruck der Trennung – und wo kann sie zum Zeugnis für die vielgestaltigen Charismen des einen Geistes Gottes werden? Welchen Beitrag leistet der christliche Umgang mit Andersheit zur gesellschaftlichen und politischen Herausforderung des Pluralismus?
Die Studienwoche profitierte von der Gastfreundschaft des Centre St. Ursule, das mit Getränken und kleinen Stärkungen zu einem gastfreundlichen Raum gestaltet wurde, in dem viele Begegnungen über das offizielle Programm hinaus möglich waren. Zur Mitwirkung eingeladen waren auch die Studierenden des IFM (Institut Romand de Formation aux Ministères), das den pastoralen Bezug der Thematik unterstrich. Das Team stellte sich dem Wagnis der Zweisprachigkeit, unterstützt durch eine Simultanübersetzung, die weitgehend von den Studierenden selbst übernommen wurde – bereits hier lag eine große Leistung im Umgang mit «Andersheit». Auch die klare, zweisprachig vorbereitete Moderation durch die Studierenden förderte den Zusammenhalt einer zweisprachigen Studierendengruppe, die sich im Alltag der Fakultät kaum in dieser Zusammensetzung begegnet.
Die Thematik umfasste die große Spannbreite von der Metaphysik bis zu Sprachkursen für Flüchtlinge: Der erste Tag war einer philosophischen und theologischen Grundlegung gewidmet: Prof. Joachim Negel vermied von Anfang an jede romantische Verklärung der Andersheit: «L’autrui me regarde, l’autrui m’énerve» – «Im Angesicht des anderen – der mir zugleich auf die Nerven geht» … Prof. Hans-Christoph Askani von der Theologischen Fakultät in Genf zeigte auf, wie der Begriff der Andersheit in der Geschichte des philosophischen Denkens den Vorrang gewonnen hat, verbunden mit einem Verlust der Einbettung in eine vertraute, Sicherheit bietende Seinswelt. Johannes Hoff, Professor am Heythrop College der Jesuiten in London, machte unter Rückgriff auf Nikolaus von Kues (1401-1464) überraschend klar, dass Gott nicht als der «radikal Andere», sondern als der Nicht-Andere (non-aliud) gedacht werden muss: Gott ist so sehr der Andere seiner Geschöpfe, dass er es nicht nötig hat, sich von ihnen zu unterscheiden. Anschaulich gesprochen: Gott hat keine Facebook-Seite …
Der zweite Tag der Studienwoche begann mit den grundlegenden Erfahrungen der Andersheit im alttestamentlichen (Philippe Lefebvre) und neutestamentlichen (Simon Butticaz, Lausanne) biblischen Kontext: Mann und Frau, Israel und der heilige Gott, Israel und die Völker, Christen und Juden, … Wird der Monotheismus gewaltförmig, weil exklusiv? Die Frage der Andersheit ist zuinnerst in der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte eingeschrieben. Der Nachmittag brachte eine positive Bilanz des Gedenkjahres der Reformation in der Schweiz, wohl nicht zuletzt, weil 500 Jahre Reformation und 600 Jahre Geburt von Nikolaus von Flüe gemeinsam gefeiert wurden: Abbé Jacques Rime stellte Bruder Klaus unter dem Gesichtspunkt der «Andersheit» vor. Der katholische Pfarrer und Domherr Alfredo Sacchi und der reformierte Pfarrer Dr. Martin Hirzel berichteten exemplarisch über die Konsensbildung in der Vorbereitung des ökumenischen Gebetstages am 1. April 2017 in Zug.
Der dritte Studientag vollzog den Übergang von der individuellen zur kirchlichen Perspektive auf die Andersheit. Zugleich wurde die Frage der «Einheit» neu gestellt: Leben wir nicht in einer solchen Inflation von Andersheit, dass wir in der Behauptung und Pflege unserer Andersheit schon wieder gleich sind und uns der Erfahrung des Anderen und dem Ringen um die Gemeinschaft gar nicht mehr stellen? Die Studierenden hatten Michael Moynagh eingeladen, der zu den Gründern der anglikanischen Erneuerungsbewegung «Fresh Expressions» gehört und im wahrsten Sinne des Wortes einen «erfrischenden» Zugang zu neuen Formen des Kircheseins mitten im Lebensalltag der Menschen erschloss. Sabrina Müller, die über diese Bewegung in Zürich promoviert hat und sie in der Schweiz mitträgt, ergänzte die Erfahrungen im schweizerischen Kontext. Der Mut, das kirchliche Leben nicht unter dem Gesichtspunkt des verwalteten Untergangs, sondern des neuen Aufbruchs zu präsentieren, prägte auch die Beiträge des Nachmittags aus evangelischer (Christophe Chalamet, Genf), orthodoxer (Erzbischof Job Getcha, Chambésy) und katholischer (Barbara Hallensleben) Perspektive.
Der letzte Tag der Interdisziplinären Woche war Zeugnissen vom gelebten Anderssein in Gemeinschaften gewidmet und bot ein großes Spektrum von spirituellen, sozialen und interreligiösen Erfahrungen: Ein Team der Gemeinschaft von Taizé leitete ein Morgengebet, Frère Richard präsentierte das Charisma seiner Gemeinschaft von Taizé, vor allem in der Gastfreundschaft für Jugendliche in der ganzen Vielgestaltigkeit ihrer Lebenssituationen und Glaubensformen. Die Gemeinschaft «Don Camillo» wurde von Barbara Weiss als eine Gemeinschaft reformierter Prägung vorgestellt. Frau Luzia Wehrle vom Fokolar in Genf war mit einer Muslimin angereist, die mit der Fokolarbewegung das Charisma der Einheit teilt. In kleineren Gesprächsgruppen konnten die Beiträge im persönlichen Austausch vertieft werden. Den Abschluss bildete die Vorstellung von verschiedenen Initiativen zur Aufnahme von Asylsuchenden in Fribourg (Daniel Schwenzer, Mitarbeiterinnen des «Point d’ancrage» im Africanum) in der Spannung zwischen den rechtlichen Rahmenbedingungen, den begrenzten Ressourcen und den konkreten menschlichen Nöten.
Eine große Zahl von Studierenden blieben bis zum abschließenden Mittagessen im Foyer St. Justin. Die positiven Erfahrungen und der Wunsch, auch künftig solche Studienwochen zu organisieren, wurden geäußert. Die Theologie – gerade in ihrer ökumenischen Prägung – braucht die Rückbindung an die Lebenswelt, um für unsere Zeit sprachfähig zu bleiben und «fresh expressions» des Glaubens hervorzubringen.

Das Vorbereitungsteam:
Damian Diethelm, Desiré Ngwene, Lazer Preldakaj, Benjamin Vaytet, Micha Weiss

Das Interdis-Team und die zwei begleitenden Professoren: (von links nach rechts) Prof. Joachim Negel, Micha Weiss, Lazer Preldakaj, Prof. Barbara Hallensleben, Desiré Ngwene, Damian Diethelm, Benjamin Vaytet | © zVg
Universität Fribourg
13. November 2017 | 10:16