Ist die Taufe noch zeitgemäss?

Vor wenigen Tagen hat Pater Martin Werlen zwei meiner Enkel, Paloma und Lorenzo, in der Klosterkirche von Einsiedeln getauft. Von Klaus Stöhlker.

Es war, in dieser barocken Pracht, die unter Leitung von Pater Martin als Abt von Einsiedeln vor einigen Jahren wieder erneuert worden ist, ein wunderbarer Anlass. Wir wurden hineingeführt in eine andere Welt, die sich von den einfältig-quadratischen Bauten der Gegenwart grundsätzlich unterscheidet. Unsere beiden Enkel wurden mit der Taufe aufgenommen in eine andere Welt, wo nicht Leistungsstress und Kapitalvermehrung angesagt sind, sondern der Glaube des Menschen an seine gottesnahe Selbstverwirklichung bis hin zur Auferstehung. Auferstehung, was für ein merkwürdiges Wort. Die meisten Menschen verlassen den Raum sofort, wenn sie dieses Wort hören. Dabei rückt es einen wichtigen Vorgang in den Vordergrund: Der Mensch soll aufstehen, neu erstehen, ein anderer Mensch werden als jener, der er jetzt ist. Wünscht sich nicht jedermann ein anderes Leben, als er es täglich erlebt und oft erleidet? Das Angebot der Auferstehung, das Paloma und Lorenzo jetzt gemacht wurde, betrachte ich als eine Chance. Sie sollen sich künftig so verhalten, dass sie die Kraft entwickeln, allein oder mit anderen aufzustehen und ihr wahres Menschsein unter Beweis stellen. Ist die Taufe noch zeitgemäss? Ich denke, sie ist es mehr denn je. Diese Welt, in der wir jetzt leben, ist für die Hälfte aller Menschen fürchterlich. Auch in der Schweiz, die sich so gerne eines besonderen Wohlstands rühmt, und wo Armut eine unbegreifliche Schande ist, muss man nicht in die Hölle kommen, um Entsetzliches zu erleben. Ein Blick in die Medien genügt; manchmal auch nur ein Blick ins Nachbarhaus. Diese Welt, in die unsere Enkel jetzt hineinwachsen, gleicht mehr denn je einem Tollhaus. Weder die Schulen sind noch intakt noch die beruflichen Möglichkeiten sicher. Vielmehr werden sie sich in einem Leben einrichten müssen, wo jener und jene gewinnt, die im Hauen und Stechen um den Erfolg die Härtesten, Schnellsten und Kompetentesten sind. Ein Blick nach Italien, England oder in die USA zeigt, wie dort der Zerfall der Gesellschaft vorangeschritten ist. Für einen aufrechten Walliser, Schweizer und Europäer ist dies eine Schande. Dort gibt es keine Familien mehr, wie sie im Wallis noch zahlreich sind, die ihre Mitglieder gegenseitig beschützen. Von der Wiege bis zur Bahre stehen diese Familien hinter ihren Angehörigen. Die meisten von ihnen, die Älteren vor allem, sind noch getauft. Sie sehen das Leben als eine Aufgabe an, oft auch als ein Rätsel, das gelöst werden muss. Sie sind getauft, d. h. sie haben eine priesterliche Aufgabe, die den Mitmenschen gewidmet ist. Nicht nur später bestimmte Amtsträger sind Priester; jeder Gläubige ist es. Die Taufe ist deshalb wie ein zweites Leben; über diesen Satz sollten wir nachdenken. Er ist wie eine offene Tür, durch die man gehen kann, ohne sein erstes Leben zu verlieren. Die Amtsträger der römisch-katholischen Kirche machen es ihren Kindern, den Gläubigen, tatsächlich schwer, den Glauben zu leben. Aber spielt dies eine Rolle? Wer Christ ist, steht über diesen Amtsträgern in Roben, die sie oft nicht verdienen. Ein getaufter Christ ist eines vor allem: Er ist frei. Er hat diese Freiheit begriffen, die von Jesus Christus ausgeht. Viele Priester und noch mehr Menschen sind diesem wahren Weg in das wirkliche Leben gefolgt. Ich bin sicher, das ist für jeden Menschen, der seine Wurzeln sucht, eine gewaltige Chance. Paloma und Lorenzo stehen jetzt ganz am Anfang eines hoffentlich langen Weges. Zwei Leben zu haben, ist sicher besser, als das übliche Angebot, «auf die Erde geworfen» zu sein, wie einige Philosophen es behaupten. Pater Martin, den viele von uns kennen, ist ein guter Türöffner. Sein Angebot ist besser, als das von Swiss Lotto. Amen.

Walliser Bote
27. August 2020 | 11:20