Helvetischer Deismus

Der Bericht der Schweizer Diözesen zuhanden der Bischofssynode 2023 verabschiedet sich vom dreifaltigen Gott und postuliert eine neue Religion. Gastkommentar von Martin Grichting

Chur (kath.net) Von einem Meinungsforschungsinstitut begleitet, haben sich in den Schweizer Bistümern Gläubige – es waren vor allem Mitarbeiter und Funktionäre – über die katholische Kirche der Zukunft Gedanken gemacht. Darauf aufbauend, hat eine «Nationale Synodale Versammlung», an der die Schweizer Bischöfe und Territorialäbte teilgenommen haben, einen «Schlussbericht» erarbeitet, der am 15. August 2022 auf der Homepage der Schweizer Bischofskonferenz publiziert wurde. Die Schweizer Oberhirten tragen diesen Bericht, ohne inhaltlich zu widersprechen, mit. Sie übermitteln ihn auf dem Briefpapier der Bischofskonferenz an den Vatikan. Dort soll er einfliessen in die Beratungen der weltweiten Bischofssynode, die im Oktober 2023 stattfindet. Die Versammlung steht unter dem Titel: «Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe, Sendung».

Gott wird im «Schlussbericht» namentlich erwähnt. Allerdings kommt er nirgends als handelndes Subjekt vor. Denn der Begriff «Gott» tritt im Text – vom Menschen postuliert oder erlebt – nur in der Form der «Gotteserfahrung» und des «Gottesdienstes» in Erscheinung sowie «im Zeugnis der Kirche von einem liebenden und barmherzigen Gott». Geteilte kirchliche Erfahrungen würden zudem «gedeutet» als Hinweise auf die «Gegenwart Gottes». Darüber hinaus steht Gott ein halbes Dutzend Mal im Genitiv des «Volkes Gottes» oder des «Reiches Gottes». Noch schlimmer ergeht es Jesus Christus. Verkündend, heiligend und mit seinem ganzen Namen: so sucht man ihn vergebens im Dokument. Nur zwei Mal wird er erwähnt, wenn es heißt, der Ausschluss der Frauen von der Ordination sei für viele mit der «Praxis Jesu» nicht vereinbar. Und die Integration von «Menschen mit LGBTIAQ*-Identität» würde der «Praxis Jesu» entsprechen. Der Heilige Geist ist drei Mal präsent, aber ebenfalls nie als handelndes Subjekt. Ein Hören auf ihn könne sich «im Zuhören auf andere» ereignen. Ebenfalls anthropozentrisch gewendet, werde sein Wirken «erfahrbar» in «synodaler Beratung, Unterscheidung und Konsensfindung». Und im gleichen Sinn gehe es darum, «kirchliche Rahmenbedingungen für das Hören auf den Ruf des Heiligen Geistes zu gestalten».

Ein Gott, der nicht handelt, der stumm ist und bloss in der menschlichen «Erfahrung» zur Sprache kommt: Dazu passt, dass die göttliche Offenbarung, der das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) noch eine «Dogmatische Konstitution» gewidmet hatte, übergangen wird. Ähnlich ergeht es der Bibel bzw. der Heiligen Schrift. Ein einziges Mal wird abstrakt vom «Hören auf das Wort Gottes» gesprochen, allerdings ohne konkrete Folgen im Text und auf die gleiche Stufe gestellt mit diesseitigen Erkenntnisquellen wie der «Aufmerksamkeit für die Äusserungen der je anderen» sowie dem «Leben unserer Mitmenschen». Keine Bibelstelle wird im «Schlussbericht» zitiert. Nur wolkig wird das «Evangelium» ein paar Mal erwähnt, mehrfach jedoch nur, um es als Gegensatz zur kirchlichen Lehre und Ordnung zu bezeichnen.

Ohne Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, gibt es kein Sprechen Gottes in die Welt. Deshalb ist es folgerichtig, dass im «Schlussbericht» keine Rede ist von Heiliger Überlieferung, apostolischer Sukzession, kirchlichem Lehramt und Konzilien (inklusive Vaticanum II). Vielmehr geht es, rein säkular räsoniert, seitenweise um die Forderungen nach Gewaltenteilung zwischen Klerikern und Laien, Beteiligung letzterer an der Bischofswahl, Beendigung der «Konzentration der kirchlichen Entscheidungsmacht bei den Klerikern», Inklusion, Gender- und LGBTIAQ*-Kompatibilität, geschlechter- und lebensformunabhängigen Zugang zu Leitungsämtern und Überwindung von «Klerikalismus». Ebenfalls wird die Akzeptanz der gelebten Homosexualität und der Ehescheidung samt Wiederheirat gefordert. Die Einzelfallregelungen bezüglich der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten wird dabei als «ungenügend» bezeichnet.

Auf Schritt und Tritt spürt man einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der postchristlichen Gegenwartskultur: Die Sprache und die Formen der Liturgie sollten «den kulturellen Kontexten angepasst» werden. Die in der Deutschschweiz erfahrene politische Kultur der Gleichberechtigung lasse den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt nicht mehr länger als hinnehmbar erscheinen. Das «sozialethische Prinzip der Subsidiarität» solle in der Weltkirche besser zur Geltung gebracht werden. Die postchristliche Gesellschaft, und nicht mehr Jesus Christus, ist das Kriterium für das Kirchesein.

Dass das II. Vatikanische Konzil abgelehnt wird, kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass es nicht erwähnt wird. Denn es wird benutzt, indem einleitend von der Taufe gesprochen wird und davon, dass sie eine priesterliche, königliche und prophetische Würde sowie Berufung verleiht. Diese in der Dogmatischen Konstitution «Lumen Gentium» enthaltene Lehre (LG 31) wird jedoch manipulativ verfälscht. Denn die Getauften sind gemäss Vatikanum II zwar «auf ihre Weise» teilhaftig am dreifachen Amt Christi, des Propheten, Priesters und Königs. Das «gemeinsame Priestertum der Gläubigen» und das «Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum» unterscheiden sich jedoch gemäss diesem Konzil und der immerwährenden kirchlichen Lehre «dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach» (LG 10). Dies wird im «Schlussbericht» verschwiegen. Ebenso wird die den Laien eigene Sendung in Welt und Kirche übergangen, die sie aufgrund der Teilhabe an dreifachen Amt Christi besitzen. In LG 30-38 wäre dies dargelegt. Stattdessen wird aus dem Getauftsein die Anerkennung der gleichen Rechte der Frauen und der Männer abgeleitet, also die Frauenordination gefordert: «Diese Erwartung entspricht einem breit geteilten Verständnis der Taufe».

Das von der Kirche in der Schweiz erdachte Kirchentum ist nicht mehr der Leib Christi, der auf dem Weg durch die Zeit ist. Und losgelöst von Jesus Christus, von der Heiligen Schrift und von der Entfaltung der kirchlichen Lehre, die der Heilige Geist begleitet, waltet darüber nicht mehr der dreifaltige Gott, sondern eine abstrakte Gottheit. Gott wird nicht mehr in Jesus Christus «»’ der Weg, die Wahrheit und das Leben (Johannes 14, 6) «»’ Mensch, um den Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden und ihnen den Weg in seine ewige Gemeinschaft zu zeigen. Er ist eine bloss erdachte Gottheit.

Solcher Deismus ist nichts Neues. Er reflektiert eine Spielart von Aufklärung, wie sie etwa bei Jean-Jacques Rousseau erkennbar ist. Dieser besass nicht die Demut, Gott anzunehmen, wie er in der Heiligen Schrift dem Menschen entgegentritt. Der offenbarte Gott war dem Bürger von Genf zu unverständlich und zu fordernd. Deshalb hat er im «Gesellschaftsvertrag» (IV, 8) eine einfache, mit seinen Vor-stellungen kompatible Gottheit erfunden. Allmächtig sei diese, allwissend, wohltätig, vorhersehend, sorgend und gerecht. In seinem Bestseller «Julie oder Die neue Héloïse» (1761) hat Rousseau die Kernbotschaft des Schweizer «Schlussberichts» vorweggenommen: Ein vernünftig erdachter Gott kann keine Unterschiede zwischen den Menschen machen. Seinem Protagonisten, St. Preux, legt Rousseau deshalb die Worte in den Mund: «Ich glaube nicht, dass Gott, nachdem er auf jegliche Art für des Menschen Bedürfnisse gesorgt hatte, dem einen mehr als dem anderen seinen ausserordentlichen Beistand schenkt (…). Diese Unterscheidung der Personen ist beleidigend für die göttliche Gerechtigkeit». Und der deistische Philosoph war sich mit den Funktionären der katholischen Kirche in der Schweiz sicher, dass man der eigenen Vernunft gegenüber den Erzählungen der Bibel den Vorzug geben müsse, wenn sich ein Wider-spruch zeigen sollte: «Lieber wollte ich die Bibel für verfälscht oder unverständlich, als Gott für ungerecht oder boshaft halten» (6. Teil, 7. Brief).

Der vom christlichen Beiwerk gereinigte Deismus eines Voltaire oder Rousseau mündete während der Französischen Revolution in den Kult des «Höchsten Wesens», konnte sich freilich nicht behaupten. Denn die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit liessen sich auch ohne Rückgriff auf einen von den Philosophen behaupteten Vernunftgott politisch verwirklichen.

So wird es auch dem von der katholischen Kirche in der Schweiz begangenen Kult des politisch korrekten Wesens ergehen, das Christus, den König, entthront hat. Denn man kann «woke», politisch korrekt, gendersensibel und LGBTIAQ*-konform sein, ohne dafür eine Gottheit erfinden zu müssen. Die zeitgenössische Gesellschaft beweist es.

In späteren Zeiten wird man sich fragen, wie es möglich war, dass die katholische Kirche in der Schweiz in einem Zeitraum von 50 Jahren vom Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sich in Jesus Christus offenbart hat, zum Deismus übergegangen ist. Die Geschichtsschreibung wird darüber mutmassen, ob die Bischöfe, statt zu leiten, bloss verwaltet und moderiert haben; ob sie, statt das unverkürzte Zeugnis des Glaubens zu geben, mehrheitsfähige Weltverbesserung gepredigt haben; ob sie hofften, populär zu sein und die «Einheit» wahren zu können, indem sie die sakramentale und lehramtliche Substanz der Kirche ausverkauften.

Vielleicht wird sich eine gegenüber dem Christentum gleichgültige, postchristliche Kultur solches aber gar nicht mehr fragen. Louis-Sébastien Mercier (1740-1814), der Rousseaus Ideen in praktische Konzepte umzumünzen versuchte und sich den Titel «der Affe Rousseaus» verdiente, hat die Entwicklung in diesem Sinn vorausgesehen. In seiner Utopie «Das Jahr 2440» berichtet er, dass im 25. Jahrhundert alle Schriften, die sich mit dem Christentum kritisch auseinandergesetzt hatten, verbrannt gewesen seien. Denn nach dem Verschwinden dieser Religion habe es keinen Sinn mehr gemacht, sie aufzubewahren.

Wie auch immer: Unser Herr Jesus Christus hat der Kirche als ganzer Bestand verheissen bis zum Jüngsten Tag. Aber das gilt nicht für die einzelnen Teilkirchen. Man denke an die Wiegen der Christenheit in der heutigen Türkei oder in Nordafrika. Der Leuchter kann von seiner Stelle gerückt werden (Offb 2, 5), auch in der Schweiz. Eine Hoffnung bleibt: An der von einem Meinungsforschungsinstitut durchgeführten Umfrage haben etwa fünf Promille der Schweizer Katholiken teilgenommen. Was die anderen 99.5% glauben, weiss Gott allein.

Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen und religiösen Fragen.

kath.net
23. August 2022 | 12:40