Harmagedon oder Die finale Niederschlagung des Bösen

Politik um Gottes Willen: Die religiöse Rhetorik George W. Bushs und ihre Wurzeln in der Geschichte der USA

Wer die Mentalitäten und damit auch die Sensibilitäten der US-Amerikaner verstehen will, kommt ohne Theologie nicht aus. Wer die mit christlichen Begriffen durchsetzte Rhetorik Bushs entschlüsseln will, muss die religiösen Prägungen der amerikanischen Kulturgeschichte in Betracht ziehen. Aus der für diese Geschichte grundlegenden Verbindung von aufgeklärtem Liberalismus und Gottesglauben wird verständlich, warum Begriffe wie «Demokratie», «Freiheit» oder «Verfassung» religiös aufgeladen sind und warum es für die Mehrzahl der Amerikaner zur gottgegebenen Mission ihrer Nation gehört, sie in die Welt hinauszutragen. Der Politisierung der Religion entspricht die Sakralisierung der Politik. Und Bush spielt auf dieser Klaviatur – keineswegs nur aus strategischem Kalkül, sondern aus eigener tiefer Überzeugung.

Doch erschliesst sich die Seele Amerikas nicht in eindimensionalen Charakterisierungen, sondern eher im Aufweis dialektischer Spannungseinheiten: Der Gegenpol zur zunehmenden Sakralisierung der Politik durch den Präsidenten ist die andernorts in der weitläufigen Gesellschaft gleichzeitig zunehmende Säkularisierung. Der Gegenpol zum Erstarken des konservativen Protestantismus ist die sich schnell ausbreitende religiöse Pluralisierung. Der Gegenpol zur kulturellen «zivilreligiösen» Durchdringung von Religion und Politik ist ihre konstitutionelle Trennung, die zuweilen seltsame Blüten treibt.

God’s own country

Wie in einem Brennglas trat in den Tagen und Wochen nach dem 11. September die nationalintegrative und identitätsstiftende Bedeutung religiöser Deutemuster zutage. Die Interferenz zwischen Kult und Kultur, die Durchdringung der so heterogenen Gesellschaft und der ansonsten so pragmatisch-interessengeleiteten Politik mit religiösen Symbolen, Symbolhandlungen und Sprachformen war augenfällig. Über die Sonntagsreden der Politiker hinaus haben religiöse Begriffe und Vorstellungen in die Begründungs- und Legitimationsmuster der Realpolitik Einzug gehalten. Der Kanon dieser Vorstellungsformen lässt sich unschwer zusammenfassen und zu den Geschichtserfahrungen und -deutungen in Beziehung setzen, die das amerikanische Nationalbewusstsein formiert haben. Im Zentrum steht der von den Puritanern mitgebrachte biblische Gedanke des Bundes, den Gott mit seinem erwählten – und d.h. nun mit dem amerikanischen Volk geschlossen hat. Deshalb versteht sich Amerika von Anfang an als «God’s own country» und trägt in der Substanz seines nationalen Selbstverständnisses ein Erwählungs- und Sendungsbewusstsein.

Im gelobten Land

Dieses Bewusstsein konnte sich auf den in Christus geschlossenen «neuen Bund» beziehen, wie es bei den Puritanern der Fall war, die das von ihnen besiedelte Neuengland «Gottes neues Israel» nannten und das sich dort sammelnde Volk zeitweilig auch als «Erlösernation» titulierten. Es konnte sich aber auch auf die alttestamentliche Überlieferung vom Bundesschluss der Israeliten am Sinai beziehen und die gesamte Tradition des Auszugs aus Ägypten mit aufnehmen.
Dieser biblische Erzählzusammenhang bot sich als theologischer Deuterahmen für die Erfahrungen der aus Europa kommenden, vor religiöser und politischer Unterdrückender fliehenden Auswanderer geradezu an: Die Befreiung des geknechteten Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten liess sich unmittelbar auf die Emigration abbilden. In der Verheissung des Gelobten Landes fand die Zukunftshoffnung der Einwanderer ihren Ausdruck. Der Durchzug der Israeliten durch die nichtverschlingenden Wasser des Schilfmeers bot sich als Deutemuster für die bedrohliche Atlantiküberquerung an. Die Landnahme Israels in Kanaan wiederholte sich in der Sesshaftwerdung der Ausgezogenen im neuen Land und liess sich später auch auf die Ausbreitung nach Westen übertragen. Der Mitteilung der Gebote Gottes am Sinai entsprach der in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung beurkundete Bund, dessen Befolgung den Aufbau und die Erhaltung eines gottwohlgefälligen Reiches des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit ermöglichen und garantieren sollte.

Zeit der Prüfungen

Diese bundestheologische Geschichtsdeutung hat sich tief in die Seele Amerikas eingeprägt. Und wenn Bush – wie vor kurzem bei einem «nationalen Gebetsfrühstück» von der Gegenwart als von einer «Zeit der Prüfungen» sprach, dann liegt auch darin eine Anspielung auf den 40-tägigen Aufenthalt Israels in der Wüste.
Der vor allem aus calvinistisch-puritanischem Erbe kultivierte Bundesgedanke bot sich auch deshalb als Integrationszentrum des religiös kodierten Nationalbewusstseins an, weil er sich nicht nur ‹vertikal›, sondern auch ‹horizontal› auslegen liess, d.h. nicht nur theologisch – als Bund Gottes mit seinem erwählten Volk –, sondern auch politisch – als die das neue Gemeinwesen konstituierende Selbstverpflichtung der Einwanderer auf die Verwirklichung ihres Ideals einer Gemeinschaft von Freien. Das Modell des Gesellschaftsvertrags, in dem die Bürger einerseits ihre soziale Zusammengehörigkeit, andererseits ihre individuellen Freiheitsrechte in Verantwortung vor Gott selbst begründen und sichern, wurde zur Leitidee der politischen Rationalität in den USA. Ihre religiöse Verankerung liegt im Rückbezug auf das Erwählungs-, Bundes- und Geschichtshandeln Gottes.
Doch verheisst dieser Glaube weder eine selbsttragende Bestandsgarantie der nationalen Einheit, noch begründet er die Erwartung einer mit geschichtlicher Notwendigkeit erfolgenden Selbstrealisierung der Grundwerte und Zielbestimmungen. Die Verwirklichung diese Werte und Ziele kann – nach amerikanischem Politikverständnis – nur durch eine aktive pragmatisch-effektive Gesellschaftsgestaltung erreicht werden; ggf. ist sie gegen Widerstand zu erkämpfen und gegen innere und äussere Bedrohung zu verteidigen.

Shining city

Mit der Verpflichtung, eine die individuellen Freiheitsrechte – auch und vor allem die Religionsfreiheit – garantierende föderale Republik aufzubauen, war von Anfang an das Missionsmotiv verbunden – allerdings in einer eher auf die Leitvorstellungen des aufgeklärten Liberalismus als auf die Christusbotschaft bezogenen Form: Von Amerika als der leuchtenden Stadt auf dem Berge («shining city») sollen die Werte von Demokratie, Freiheit und Chancengleichheit in die Welt ausstrahlen. Dieses Sendungsbewusstsein begegnet uns bis heute als zivilreligiöser politischer Messianismus.
Er legitimiert sich theologisch auch durch den – mit dem Bundesgedanken verbundenen – Glauben an die Vorsehung Gottes, die Amerikas Weg durch die Geschichte lenkt, und durch die sich daraus ergebende nationale Bestimmung. Das Leitwort von der «manifest destiny» (der «offenbaren Bestimmung») diente im 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung der Expansionspolitik. Auf dem Grosssiegel der USA ist dieser Glaube in würdevollem Latein in die Worte gefasst: «Gott hat unserem Unterfangen seine Gunst erwiesen.»
Wie sich das Vorsehungsmotiv mit einer theologischen Geschichtsdeutung verbindet, lässt sich an einem Gedanken von Philipp Schaff, einem einflussreichen amerikanischen Theologen des 19. Jahrhunderts, nachvollziehen. Ihm zufolge liegt es in der von Gott verordneten Logik der Weltgeschichte, dass sich das Lebenszentrum des Christentums – dem Lauf der Sonne von Ost nach West vergleichbar – von Palästina über den römischen Katholizismus und die Reformation in Deutschland und der Schweiz weiter nach Westen verlagert hat. Von hier aus soll es nun in alle Welt ausstrahlen. Amerika sei der «Hauptschauplatz der zukünftigen Welt- und Kirchengeschichte», so Schaff in einer 1846 gehaltenen Rede.

Tod und Wiedergeburt

Mit dem Bürgerkrieg (1861–1865) hielt zudem die Rhetorik von Tod, Opfer, Versöhnung und Wiedergeburt Einzug in das nationalreligiöse Bewusstsein. Sie kann immer dann aktualisiert werden, wenn ein Kampf im nationalen Interesse auszufechten ist – wie in der Gegenwart.
So haben die prägenden Perioden und Umbrüche der US-amerikanischen Geschichte ihre Spuren in der «civil religion» hinterlassen. Die Präsidenten sind die Hohenpriester dieser aus christlich-jüdischen Traditionszitaten, (nicht selten verklärenden) Kultivierungen der amerikanischen Geschichte und vor allem aus einer gehörigen Portion Patriotismus zusammengesetzten Nationalreligion.
Wo immer ein Präsident eine seiner feierlichen Grundsatzreden hält und wo immer es zu einer öffentlichen Selbstinszenierung der Nation mit ihren Symbolen und Symbolhandlungen kommt, dort artikuliert sich diese, vom Christentum im engeren Sinn zu unterscheidende Zivilreligion. Ronald Reagan hatte «America’s Spiritual Reawakening» beschworen. In einer programmatischen Rede, in der sich der Southern Baptist Bill Clinton als Präsidentschaftskandidat präsentierte, sprach er vom Neuen Bund zwischen Volk und Regierung. In der Ansprache, die George W. Bush am 20. September vor dem Kongress hielt, betonte er die nationalen Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit, Fortschritt, Pluralismus, Toleranz und er stellte die jetzt um so notwendigere Führungsmacht Amerikas im Kampf gegen das Böse heraus. Dabei berief er sich auf Gott, der für die USA in diesem gerechten Kampf Partei ergreife. Die Zustimmung der Amerikaner zu seiner Rede lag bei 95%.

Achse des Bösen

Die ebenfalls hochgradig religiösen Leitbegriffe wie die «Achse des Bösen» (bei Reagan war es das «Reich des Bösen») oder der zunächst gewählte Name für den Anti-Terror-Krieg: «infinite justice» («unendliche / allumfassende Gerechtigkeit») – dann umbenannt in «dauerhafte Freiheit» («enduring freedom») – verweisen auf einen für die christlichen Religionskulturen Amerikas charakteristischen Grundzug, der aber auch zivilreligiös relevant ist und gegenwärtig stark in die Politik hinein wirkt: auf die starke endzeitliche Ausrichtung.
Was hierzulande seinen Ort an den sektiererischen Rändern des Christentums hat (wie bei den Zeugen Jehovas und den Adventisten – beide aus amerikanischen Wurzeln stammend!), bildet dort einen für viele Christengemeinschaften zentralen und über sie hinaus ausstrahlenden wirkmächtigen Überzeugungskomplex. Er kann die eher privatisierte Form des Glaubens an eine persönliche Entrückung der Gottwohlgefälligen haben, so wie es in der zehnbändigen Romanserie «Left Behind» dargestellt ist, die im letzten Jahr monatelang auf der Bestsellerliste der «New York Times» ganz oben rangierte und den Autoren Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins Millionen Dollar einbrachte. Sie kann aber auch die politisierte Form des Glaubens an eine bevorstehende Endzeitschlacht haben, in der sich die Gerechten gegen die Feinde der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Demokratie und d.h. gegen die Feinde Gottes bewähren müssen. Über 70% der sich selbst als «wiedergeboren» bezeichnenden Christen in den USA glauben, dass mit dem 11. September die angekündigte Endzeitschlacht begonnen hat.

Endzeitschlacht im Irak

Man muss nur die Weissagung vom letzten Ansturm der gottfeindlichen Mächte gegen das «offene Land», in dem «die Friedlichen» leben, das «Volk, das aus den Völkern gesammelt ist … und auf dem Nabel der Welt wohnt» (Ez 38, 11 und 12) auf die USA als auf das neue Israel beziehen und dann weiterlesen: Gott wird mit den Feinden seines erwählten Volkes ins Gericht gehen, sie mit Pest und einem Blutbad überziehen; Feuer und Schwefel wird er regnen lassen und so seine Herrlichkeit an ihnen erweisen (Ez 38, 21–23). Und nimmt man noch die Endzeitvision aus dem letzten Buch der Bibel, der Johannesapokalypse, hinzu, dann enthüllt sich, wo der Feind auszumachen ist: in Babylon (Apk 16,19) im Zweistromland, im Gebiet des heutigen Irak. Nach Apk 16,16 ist die Endzeitschlacht mit dem Ortsnamen «Harmagedon», verbunden. Dieser Name ist zum Programmwort für die endgültige Niederschlagung des gegen Gottes sich erhebenden Bösen geworden. Schon im Kuwaitkrieg hatten amerikanische Soldaten die Kanonen ihrer Panzer mit diesem Schlagwort beschriftet.
Die theopolitische Rhetorik Bushs und die Zustimmung, die sie weit über die evangelikalen und fundamentalistischen Flügel des amerikanischen Protestantismus findet, verdankt sich nicht zuletzt einer solchen selektiven und unhistorischen Bibellektüre, die einzelne Texte aus ihrem Kontext löst und in ein unmittelbares Verhältnis zu gegenwärtigen politischen Entwicklungen setzt – womit der Auslegungswillkür Tür und Tor geöffnet wird. Dass in der Bergpredigt von einer unbedingten Feindesliebe, vom Gewaltverzicht und von einer Gerechtigkeit Gottes die Rede ist, die ethnische und religiöse Grenzen durchbricht – das wird auf die Endzeit verschoben, die erst erkämpft werden muss.
Um so wichtiger ist, die bei uns kaum wahrgenommen, in den so genannten Mainline-Kirchen der USA aber gewichtigen Stimmen zu Gehör zu bringen, die gegen einen solchen, mehr von Patriotismus und uramerikanischem Kampfgeist als von der Christusbotschaft getragenen kurzschlüssigen Biblizismus Einspruch erheben. So hat die methodistische Kirche in den USA ihrem Mitglied George W. Bush Folgendes ins Stammbuch geschrieben: «Ein Präventivkrieg gegen einen Staat wie Irak widerspricht in jeder Hinsicht dem, was wir als das Wesen des Evangeliums verstehen; er widerspricht den Lehren unserer Kirche und unserem Gewissen.» Gegenüber zivilreligiösen Inanspruchnahmen christlicher Überlieferungen wie auch gegenüber christlichen Gemeinschaften, die aus einem Erwählungstriumphalismus leben, ist mit Karl Barth, dem grossen Basler Theologen, konsequent zu unterscheiden zwischen der Selbstmitteilung Gottes und den menschlichen Religionskulturen, die sich nur allzu oft diese Offenbarung nach ihrer Façon zu Eigen machen. In der biblischen Überlieferung gibt sich Gott zu erkennen als ein Gott der universalen Menschenliebe, der – so Karl Barth – alle Menschen in seine Erwählung eingeschlossen hat. Von diesem Glauben aber geht eine ideologiekritische Kraft aus gegen jede Form der Sakralisierung und damit Immunisierung politischer Machtansprüche und Programme.
So braucht man Theologie nicht nur, um die politische Kultur der USA zu diagnostizieren, sondern auch, um ihre religiösen Dimensionen zu kritisieren. Reinhold Bernhardt

Basler Zeitung
8. März 2003 | 00:00