Handeln wie Gott!

Sabine Bieberstein zu Jak 2,1-5

Auf den Text zu
Welche Gemeinschaft, Gesellschaft oder Gruppe kennt das nicht: Da gibt es Leute, denen die besonderen Stühle vorbehalten sind, die die Ehrenplätze erhalten, die zuerst bedient werden, die mit Samthandschuhen angefasst werden müssen, auf deren Wort man hört, auf deren Anwesenheit besonderer Wert gelegt wird, deren Nähe man sucht, auf deren «Duzis» man besonders stolz ist und so weiter. Und da gibt es die anderen: die kaum wahrgenommen werden, deren Wort nichts zählt, die die Hintergrundarbeit machen, mit deren Freundschaft man keinen Staat machen kann und derentwegen weder ein Termin verschoben noch ein besonderes Angebot gemacht wird. Auch christliche Gemeinden sind davon nicht frei. Und schon gar nicht die Kirchen als Ganzes.
Solches Unterscheiden von Personen auf Grund ihres äusseren Ansehens hat der Verfasser des Jakobusbriefs in unserem Lesungstext vor Augen. Und seine Stellungnahme dagegen lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Es widerspricht seiner Ansicht nach zutiefst dem christlichen Glauben und pervertiert ihn. Denn es leugnet die Herrlichkeit Jesu Christi (Jak 2,1) und läuft dem Handeln Gottes zuwider (2,5).

Mit dem Text unterwegs
Was die Einheitsübersetzung in 2,1 mit «Ansehen der Person» wiedergibt, wäre deutlicher eigentlich mit «parteiliche Bevorzugung» zu übersetzen (Frankemölle). Das legt die Gerichtsterminologie in 2,4 und 2,12­13 nahe, und das unterstreicht auch die Tora, die von jedem Richter Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit fordert: «Ihr sollt in der Rechtsprechung kein Unrecht tun. Du sollst weder das Ansehen des Armen beachten noch das Ansehen eines Mächtigen bewundern; in Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten» (Lev 19,15; Übersetzung Frankemölle). Auch eine Passage aus Sir 35 mag Jakobus vor Augen gehabt haben, als er seine Mahnung an die Gemeinde formulierte: «Denn der Herr ist Richter, und bei ihm gilt kein Ansehen der Person. Nicht nimmt er Partei gegen den Armen, und das Gebet dessen erhört er, dem Unrecht geschah» (Sir 35,12­13; vgl. 35,11­24!; Übersetzung Frankemölle).
Der Verfasser verknüpft damit zwei Gedanken: zum einen das in der Bibel vielfach belegte Motiv, dass Gott nicht nach dem Ansehen der Person richtet, und zum anderen die Forderung der Tora an die menschlichen Richter, unparteilich und unbestechlich zu sein. Wie an anderen Stellen des Briefes stellt der Verfasser dadurch einen Bezug zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen her: Weil Gott niemanden nach dem äusseren Ansehen parteilich bevorzugt, und weil er auf das Gebet derer hört, denen Unrecht geschah, deshalb sollen auch diejenigen, die an ihn glauben, sich solche Verhaltensweisen zu eigen machen. In den Gemeinschaften, die sich auf diesen Gott berufen, darf es keine Benachteiligung von Armen und keine Bevorzugung von Reichen geben.
Eine nochmalige Zuspitzung erfährt diese im wahrsten Sinne des Wortes theo-logische Begründung durch einen christologischen Aspekt. Der Verfasser überträgt in 2,1 die Gottesprädikation «Herr der Herrlichkeit» auf den Messias Jesus und stellt dieser «Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus» das von ihm als falsch diagnostizierte «Ansehen der Person» gegenüber. Damit wird «ein wirklich christologisches Bekenntnis daran gemessen, ob es ausser dem einen ÐHerrn der Herrlichkeitð in der Gemeinde noch andere ÐHerrenð gibt» (Frankemölle 375). Dem Messias Jesus die Ehre zu geben, heisst für den Verfasser also, keine anderen «Herren» auf einen Sockel zu heben. Und es heisst auch, dass dem (dogmatisch korrekten) Bekenntnis zum «Herrn» Jesus Christus ein solidarisches Verhalten gegenüber anderen Menschen entsprechen muss ­ ein Verhalten eben, das diesem Namen des «Herrn» Jesus Christus Ehre macht.
Wie dieses solidarische Verhalten ­ der Gottesdienst im zwischenmenschlichen Verhalten ­ aussehen kann, davon spricht der Jakobusbrief an vielen Stellen: barmherzig sein (2,13), den Bedürftigen Kleidung und Nahrung geben (2,14­17), einander nicht verleumden (4,11), gerechte Löhne bezahlen (5,4) oder eben, wie an unserer Stelle, die Armen nicht zurücksetzen und die Reichen nicht bevorzugen. Dazu braucht es mehr als einen distanzierten, quasi neutralen Standpunkt. Es braucht ein dezidiertes und solidarisches Engagement für die Armen ­ so wie es über Gott selbst erzählt wird, der die Armen erwählt und ihnen in besonderer Weise seine neue Welt zugesagt hat (2,5). Wird die Verheissung des Reiches Gottes so mit der Arbeit für Gerechtigkeit verbunden, ist sie mehr als eine billige Vertröstung auf ein «besseres Jenseits». Sondern weil es die Zusage von Gottes neuer Welt gibt, wird es möglich, die gegenwärtigen Wertmassstäbe von «Mehrbesseren» und weniger Wichtigen zu verlassen und ein neues Miteinander einzuüben. Die Zusage von Gottes neuer Welt wird so zur Kraftquelle für eine Praxis der Gerechtigkeit hier und heute.

Über den Text hinaus
Ob der in 2,1­5 geschilderte Fall tatsächlich in der Gemeinde des Jakobus vorkam, oder ob es ein fiktives Beispiel ist, lässt sich kaum mehr entscheiden. Gewiss aber entspricht das Beispiel der Lebenswelt und den Erfahrungen der Adressatinnen und Adressaten, und auch das negative Beispiel der Reichen, die die Gemeindemitglieder vor Gericht schleppen und sie als Christinnen und Christen verunglimpfen (2,6­7), knüpft an die Wirklichkeit der Angesprochenen an. Trotz dieser Negativerfahrungen scheint die Gemeinde aber nicht frei davon, gerade solche Mächtigen und Angesehenen über Gebühr aufs Podest zu stellen.
Damit spricht der Verfasser Mechanismen an, die bis heute in kirchlichen und anderen Gemeinschaften auf gleiche Weise spielen. In seiner Direktheit bleibt der Text bis heute eine Herausforderung. Wie wären Kirchen- und Gemeindestrukturen zu gestalten, damit sie vor dem Text bestehen könnten? Welche Menschen müssten endlich eine Stimme bekommen, und welchen stünde es gut an, einmal für eine Weile zuzuhören? Natürlich hat jede Wirklichkeit mehr Farben als Schwarz und Weiss, und natürlich braucht es einen differenzierten Blick. Aber Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen sind oft subtiler als wir wahrhaben wollen. Leicht kann sich wahrscheinlich keine Kirche und keine Pfarrei aus der Affäre ziehen.

Die Autorin: Die promovierte Theologin Sabine Bieberstein leitet auf der Bibelpastoralen Arbeitsstelle das Projekt «Jahr der Bibel 2003» in der Schweiz.

Literatur: Hubert Frankemölle, Der Brief des Jakobus. Kapitel 2­5, (Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament 17/2), Gütersloh 1994; Bibelpastorale Arbeitsstelle SKB / Schweizerische Bibelgesellschaft (Hrsg.), Tatkräftiger Glaube ­ ganzheitliches Leben. Mit dem Jakobusbrief im Gespräch, (Unterlagen zum Bibelsonntag 1996), Zürich/Biel 1996.


Er-leben
Titel oder Funktionen verschiedener Personen auf Zettel schreiben und im Raum verteilen: zum Beispiel Unternehmer/Unternehmerin, Arzt/Ärztin, Kassiererin im Supermarkt, Pfarrer/Pfarrerin, Strassenarbeiter, Lehrer/Lehrerin, Gemeindepräsident/Gemeindepräsidentin, Helferin beim Pfarreimittagstisch, arbeitsloser Mann usw.
Die Nähe welcher Personen suche ich? Auf wessen Urteil lege ich Wert? Welches «Duzis» freut mich besonders? Warum?

Er-lesen/Er-hellen
Jak 2,1­5 im Kontext von 2,1­13 lesen. Welche Konflikte gibt es in der angesprochenen Gemeinde? Welches Verhalten empfiehlt der Verfasser? Wie begründet er das?

Er-leben
Wo gibt es in unserer Pfarrei Handlungsbedarf?

BPA und SKZ
7. September 2003 | 00:00