Die Schweiz missachtet die Rechte von Minderjährigen

Medienmitteilung

Chiasso/Bern. Nichtregierungsorganisationen sind besorgt über die hohe Zahl an unbegleiteten Minderjährigen, die an der Schweizer Südgrenze nach Italien zurückgewiesen wurden. Auf Einladung der italienischen NGO Associazione Studi Giuridici per l’Immigrazione (ASGI) und der lokalen Associazione Firdaus nahm die Asylexpertin von Amnesty International Schweiz, Denise Graf, heute an einer Medienkonferenz im Tessin teil. Sie forderte die Behörden zum Schutz der Minderjährigen in Como auf.

Die Schweiz missachte die Rechte von Kindern und Jugendlichen an der Grenze, sagte Graf. Zahlreiche unbegleitete Minderjährige seien von den Schweizer Behörden an einem Grenzübertritt gehindert worden, obwohl sie nach eigenen Angaben um Schutz ersucht hatten und zu ihren Angehörigen in der Schweiz oder in anderen europäischen Staaten reisen wollten.

Eine Delegation von Amnesty International hatte Mitte August Como besucht. Es wurden rund 30 Interviews mit Jugendlichen in den Camps um den Bahnhof von Como und in der Institution von Pfarrer Don Giusto Della Valle im Comer Vorort Rebbio befragt, der jüngste war gerade einmal 12 Jahre alt. Don Giusto nimmt in Rebbio unbegleitete Minderjährige (UMA), Schwangere und Familien mit kleinen Kindern auf. Amnesty hatte zudem Einsicht in zahlreiche Dossiers von abgewiesenen Flüchtlingen. Es wurden Gespräche mit Hilfsorganisationen, Freiwilligen und Behördenvertretern geführt.

Zugang zum Asylverfahren verwehrt

Die Befragungen der Jugendlichen ergaben, dass es an der Grenze erhebliche Verständigungsprobleme bezüglich des Zugangs zum Asylverfahren und der rechtlichen Lage gibt, wie Graf sagte. Die Grenzwächter seien mit einer Aufgabe betraut worden, die nicht in ihrer Kompetenz steht. Jede Person, die eine Grenze überschreitet, hat ein Recht auf einen formellen Entscheid. Personen, die sich regulär ausweisen, können durch das Grenzwachtkorps abgewiesen werden, beispielsweise wenn sie eine Einreisesperre haben. Bei undokumentierten Personen gilt die Regelvermutung, dass es sich um schutzsuchende Personen handelt. Diese müssen mindestens Zugang zu einem Vorverfahren durch die zuständige Behörde, d.h. das Staatssekretariat für Migration haben.

Im Tessin habe die Grenzwache in den letzten Wochen knapp zwei Drittel aller Personen ohne gültige Reisepapiere nach Italien zurückgewiesen. Nur rund ein Drittel wurde zum Asylverfahren zugelassen. Die ungewöhnlich hohe Zahl an Pushbacks ohne Vorverfahren durch die zuständige Instanz, gefolgt von einem formellen Entscheid, widerspricht dem internationalen Recht.

Zudem berichteten mehrere Jugendliche, dass sie vom Schweizer Grenzwachkorps nach Italien zurückgewiesen wurden, obwohl sie ihre Absicht geäussert hätten, in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen oder um Schutz ersuchten. All diese Personen hätten an das SEM überwiesen werden müssen, um Zugang zum Asylverfahren zu erhalten. Andere unbegleitete Minderjährige wurden offenbar erst bei einem zweiten oder dritten Versuch über die Grenze gelassen und dem Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) in Chiasso zugewiesen.

Schweiz zum Schutz verpflichtet

Gestützt auf die UNO-Kinderrechtskonvention sind die Schweizer Behörden verpflichtet, unbegleitete Minderjährige zu identifizieren und Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Allein die Tatsache, dass ein Minderjähriger alleine in Como auf der Strasse schläft und zu seinen Verwandten in der Schweiz oder in einem anderen europäischen Land möchte, muss als Schutzgesuch gewertet werden. Die Behörden müssen sich diesen Jungen und Mädchen annehmen und dafür sorgen, dass sie über ihre Rechte informiert werden und dass ihnen mindestens eine Vertrauensperson zur Seite gestellt wird, wie Graf weiter sagte.

Alle Menschen haben das Recht, einen Asylantrag an der Schweizer Grenze zu stellen, deshalb fordert Amnesty International Schweiz:

  1. Personen die an der Schweizer Grenze die Absichtserklärung geben, Asyl zu beantragen zwecks Einleitung eines Asylverfahrens an das SEM (EVZ) weitergeleitet werden (auch wenn der Asylantrag erst bei zweiten oder dritten Versuch gestellt wird).
  2. Allen undokumentierten Personen mindestens Zugang zu einem Vorverfahren mit einem formellen Entscheid bei der zuständigen Behörde (SEM) zu gewähren.
  3. Mit UMAs der UNO-Kinderrechtskonvention und der Dublin III-Verordnung entsprechend umzugehen: Identifizierung als Minderjährige, getrennte Unterbringung, Zuweisen einer Vertrauensperson, besonders behutsames Vorgehen bei Körperkontrollen;
  4. Alle Personen, die an der Schweizer Grenze angehalten werden, haben ein Recht auf Information in einer Sprache, die sie verstehen, auch bei den Gesprächen mit den Grenzwächtern. Amnesty hat bei Interviews festgestellt, dass viele weder eine Schweizer Landessprache noch Englisch sprechen.
Amnesty International
31. August 2016 | 11:32