Die Ikone Rüeger vom Sockel stossen

Im Gespräch mit: Ursula Kampmann: Nach jahrelanger Forschungsarbeit legt die Historikerin und Numismatikerin Ursula Kampmann einen Briefwechsel um 1600 vor, der hohe Wellen werfen wird. Müssen wir uns vom romantisierenden Bild von Johann Jakob Rüeger verabschieden?

Andreas Schiendorfer

Die Korrespondenz eines Reichsritters in Randegg mit einem Theologen in Schaffhausen zieht die Historikerin und Numismatikerin Ursula Kampmann seit Jahren in ihren Bann. Nun sind «Die Briefe des Herrn von Schellenberg an Johann Jakob Rüeger» (Band 1) erschienen.

Bevor wir auf den Schaffhauser Historiker Johann Jakob Rüeger (1548–1606) zu sprechen kommen, nimmt es uns Wunder, wer denn dieser geheimnisvolle «Herr von Schellenberg» ist?

Ursula Kampmann: Hans von Schellenberg gehörte einer weit verzweigten Familie von Reichsrittern an. Er benannte sich nach der Burg Randegg, die erst sein Vater Gebhard erworben hatte. Hans wurde entweder 1551 oder 1552 geboren und hatte eine Schaffhauser Patrizierin namens Barbara Fulach zur Mutter. Er genoss bei den Jesuiten in Ingolstadt eine hervorragende Bildung; es gelang ihm aber trotzdem nie, einen einträglichen Posten in der Verwaltung eines Fürsten zu ergattern. Er starb kinderlos im Jahr 1609.

Allein schon die Tatsache, dass nun seine 149 Briefe an Johann Jakob Rüeger in einer wissenschaftlichen Edition zugänglich gemacht werden, zeigt, welch bedeutende Persönlichkeit er gewesen ist.

Kampmann: Genau das Gegenteil ist der Fall. Natürlich ist Schellenberg eine gewisse regionale Bedeutung nicht abzusprechen, aber seine Briefe sind vor allem ein entlarvendes Selbstzeugnis vom Niedergang eines gebildeten Reichsritters durch die Auswirkungen des Klimawandels während der Kleinen Eiszeit. Hans von Schellenberg ist finanziell nicht mehr in der Lage, den Prunk zu finanzieren, den er seinem Stand schuldig zu sein glaubt.

Dann hat also der adlige Randegger seinem Schaffhauser Brieffreund seine Sorgen und Nöte mitgeteilt und sich von ihm Rat erbeten?

Kampmann: Seine wortgewaltigen Briefe sind ein perfektes Vertuschungsmanöver. Er will demonstrieren, was für ein grosser Herr er ist. Dabei richteten sich die Briefe an einen grösseren Leserkreis. Im 16.»«‹Jahrhundert war es üblich, Briefe abzuschreiben oder vorzulesen. Schellenberg konnte also darauf rechnen, dass die Schaffhauser Honoratioren den Inhalt seiner Schreiben kennenlernten. Vermutlich hoffte er sogar, seine Briefe würden gedruckt.

Dann haben Sie ihm gewissermassen eine späte Genugtuung bereitet.

Kampmann: Am ersten Band unserer Trilogie hätte er sicher Freude, denn hier werden auf 555»«‹Seiten seine Briefe buchstabengetreu transkribiert und zusätzlich in modernes Deutsch übertragen. Die beiden Folgebände mit Auswertungen und Anmerkungen würde er wohl mit gemischten Gefühlen lesen, da sie seine Selbstdarstellung in entscheidenden Punkten stark relativieren. Gerne würde ich aber noch auf die Bezeichnung «Brieffreund Rüeger» zu sprechen kommen. Das kann man so nicht stehen lassen!

Wie muss man sich denn dieses Verhältnis vorstellen?

Kampmann: Ein gewisser gegenseitiger Respekt war sicher vorhanden, da beide in ein ausgedehntes Bezugsnetz eingebunden waren, zu dem beispielsweise Adolf Occo in Augsburg, Johann Wilhelm Stucki in Zürich oder der Rheinauer Konventuale Georg Sebastian Harzer von Salenstein gehörten. Vom lieb gewordenen Bild einer Männerfreundschaft, die alle Religions-, Standes- und Landesgrenzen zu überschreiten vermag, müssen wir uns jedoch verabschieden: Schellenberg und Rüeger begegneten sich nicht auf Augenhöhe.

Worauf stützt sich diese Ent-Täuschung?

Kampmann: Es gibt noch eine zweite Form der Korrespondenz. Darin geht es um Münzen, Bücher, Karpfen und Käse, die Schellenberg benötigt. Dabei stellt er aber nicht eine Bitte an seinen Freund, sondern erteilt seinem Faktor Aufträge. Das Entgelt dafür erfolgt im Rahmen eines Geschenksystems: Der Rangtiefere, also Rüeger, macht ein Geschenk und erhält vom Ranghöheren, also Schellenberg, ein wertvolleres Gegengeschenk.

Woher stammt unser idealisierendes Rüeger-Bild?

Kampmann: Der erste Biograf Johann Jakob Mezger hat ihn 1859 bewusst zur überragenden Persönlichkeit seiner Zeit emporstilisiert. Sein Bild wurde allzu unkritisch übernommen. Auch wegen des Erfolgs der gedruckten Rüeger-Chronik. Ihre Bedeutung verdankt sie nicht zuletzt dem ausgezeichneten Anmerkungsapparat des Herausgebers Carl August Bächtold, doch das Verdienst schrieb man allein Rüeger zu.

Holen Ihre Erkenntnisse Johann Jakob Rüeger vom Sockel des Denkmals herunter, das früher im Pfalzhof des Museums und nun vor der Stadtbibliothek steht?

Kampmann: Wenn Sie vom überlebensgrossen Protagonisten ausgehen, dann schon. «Mein» Rüeger ist ein Kind seiner Zeit mit Sorgen, Problemen, Nöten, beruflichen Rückschlägen und Enttäuschungen, aber auch Freuden und beachtlichen Leistungen. Er bekommt menschliche Züge…

Ihre Briefedition erscheint in der Reihe «Nomismata» des Habelt-Verlags in Bonn, sie muss also für die Numismatik von Bedeutung sein.

Kampmann: Ja, derzeit wird in der Forschung viel über die Geschichte derer diskutiert, die vor mehr als einem halben Jahrtausend die ersten Bücher über Münzen geschrieben haben. Und es gibt wenige Quellen, die uns einen derart guten Einblick geben, was ein durchschnittlicher Münzsammler damals wusste, welche Bücher er las und wo er seine Münzen kaufte.

Finden diese Einblicke ein interessiertes Publikum?

Kampmann: Das kann man so sagen. Ich werde weltweit zu Fachvorträgen eingeladen, und wenn ich dabei auf die Korrespondenz des Hans von Schellenberg zu sprechen komme, ist die Aufmerksamkeit jeweils sehr gross.

Besitzt das Museum zu Allerheiligen noch Münzen der Sammlung Rüegers?

Kampmann: Leider nein, Rüeger geriet in finanzielle Nöte und musste seine Sammlung dem württembergischen Kammermeister Johann Jakob Guth nach Stuttgart verkaufen. Von dort kam sie in die Sammlung des württembergischen Herzogs und einige Stücke liegen sicher noch heute im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart. Leider wissen wir aber nicht, welche das sind. Die früheren Beschreibungen waren nicht genau genug, um die Stücke zu identifizieren.

Wo liegen eigentlich die Briefe, die Sie publiziert haben?

Kampmann: Ein grosser Teil der Korrespondenz Rüegers, wie auch die Briefe, die ich publiziert habe, sind heute in der Unibibliothek Basel. Ein anderer Teil, nämlich das riesige Konvolut der Briefe von Adolf Occo, wird in der Schaffhauser Stadtbibliothek aufbewahrt. Es wäre schön, wenn auch sie eines Tages veröffentlicht würden. Sie bieten sicher ebenfalls viele Informationen über Schaffhausen, die Region und ganz Süddeutschland. Neben Numismatik geht es in all diesen Briefen auch um Politik, Geschichte, Archäologie, Religion, Musik sowie um Gesundheit und Verwandtschaft.

Wie sind Sie eigentlich auf diesen Briefwechsel aufmerksam geworden?

Kampmann: Durch puren Zufall. Eine inzwischen verstorbene Mitarbeiterin des Staatsarchivs Schaffhausen, die leider ihren Namen nicht genannt haben wollte, gewährte mir Einblick in ihre Transkription von Schellenberg-Briefen. Sie selbst fühlte sich zwar einer wissenschaftlichen Edition nicht gewachsen, aber sie konnte die Claire-Sturzenegger-Jeanfavre-Stiftung von der Bedeutung dieser Korrespondenz überzeugen.

Wussten Sie 2008, dass Sie sich 15»«‹Jahre lang mit den Briefen des Hans von Schellenberg auseinandersetzen werden?

Kampmann: Nein, ich investierte weit mehr Zeit in dieses Projekt, als ich je gedacht hatte. Vor allem die Recherchen für den Anmerkungsband waren sehr intensiv, die reinste Detektivarbeit. Zum Glück war ich nicht allein und konnte mich auf ein Netz von unterstützenden Fachleuten abstützen.

Der erste Band liegt vor. Wann dürfen wir mit den Folgebänden rechnen?

Kampmann: Ich befinde mich auf der Zielgeraden. Ein genaues Datum möchte ich aber nicht nennen, weil der Feinschliff enorm wichtig ist und deshalb die nötige Zeit beanspruchen darf.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer 1500»«‹Seiten starken Trilogie?

Kampmann: Impulse für weitergehende Forschungen in den verschiedensten Bereichen der frühen Neuzeit wie Religion, Politik, Sozialgeschichte, Numismatik und natürlich Schaffhauser Lokalgeschichte. Und gerne würde ich, vor allem mit dem Band, der die Korrespondenz in die Geschichte der nachreformatorischen Zeit einordnet, bei einem breiten Publikum das Interesse an der Geschichte stärken.

 Ursula Kampmann

Die in München und Saarbrücken ausgebildete Historikerin ist seit 1986 in der Numismatik tätig, zunächst als Händlerin, dann als Journalistin und Publizistin. Ursula Kampmann ist die Gründerin der erfolgreichen numismatischen Onlinezeitschrift MünzenWoche/CoinsWeekly, die sich 2015 im Rahmen der Neugestaltung des deutschen Kulturgüterschutzgesetzes mit einer Onlinepetition erfolgreich für den Weiterbestand des privaten Sammelns eingesetzt hat.

«Natürlich ist Schellenberg eine gewisse regionale Bedeutung nicht abzusprechen, aber seine Briefe sind vor allem ein entlarvendes Selbstzeugnis vom Niedergang eines gebildeten Reichsritters.»

Ursula Kampmann zeichnet den Historiker Rüeger in einem neuen Licht. BILD ROBERTA FELE

Die Briefe des Herrn von Schellenberg an Johann Jakob Rüeger. (Nomismata 13.1). Bonn, Habelt-Verlag, 2024. 576»«‹Seiten, 89»«‹Euro .

Schaffhauser Nachrichten
22. April 2024 | 11:51