Hier geschieht die Magie: Bernhard Ruchti, der 49-jährige Komponist, Organist und künstlerischer Leiter der Kirche St. Laurenzen, am Flügel in seinem Büro.

Der Gott der Geschwindigkeit

Medienmitteilung

Meist am letzten Freitag das Monats wird in der Kirche St. Laurenzen «gevespert». Dabei geht es aber nicht ums Essen, sondern um Kultur. Genauer: um Musik und Texte. Die Vesper Ende März ist in zweifacher Hinsicht ausserordentlich: am 29. März ist Karfreitag und das Stück «Lachrimae» für Orgel, Mezzosopran und Violine feiert Uraufführung. Komponiert hat es Bernhard Ruchti. Wir haben ihn gefragt: Wie «kreiert» man eigentlich Musik?

Herr Ruchti, eines Ihrer Projekte («A Tempo») beschäftigt sich mit Geschwindigkeit in der Klassik. Was stört mehr: Wenn ein Stück zu schnell oder zu langsam gespielt wird?

Schwierige Frage. Eine eindeutige Antwort darauf habe ich nicht. Wird zu schnell gespielt, nervt mich vor allem, dass ein Grossteil der Schönheit verloren geht. Der Musizierende will möglichst virtuos auftreten.

Und was nervt beim Verlangsamen?

Wenn wirklich spürbar träge gespielt wird, ist das teilweise fast quälend. Man denkt sich nur: Jetzt komm mal in die Gänge (lacht). Aber eigentlich geht es sowieso nicht nur um die Geschwindigkeit.

Sondern?

Um die Art und Weise, wie du spielst. Das ist wie beim Sprechen. Man kann ganz langsam aber mit grosser Intensität reden und dabei Spannung aufbauen. So bleibt einem das Gegenüber an den Lippen hängen. Das Gegenstück ist eine betont nonchalante und teilnahmslose Redensart – eher Geschwafel.

Musik ist also auch Rhetorik.

Auch? Musik ist zu 150 Prozent Rhetorik. Man versucht, seiner Zuhörerschaft den Inhalt eines Stücks zu vermitteln. Das hat viele Parallelen zu einem Vortrag. Dabei sprechen einige so schnell, als versuchten sie, ein Rennen zu gewinnen. So verlieren sie das Publikum. Und transportieren kaum Inhalt. In der Musik wäre das vergleichbar mit Pianisten, die schwierige Stücke so schnell wie möglich spielen – Chopin zum Beispiel.

Gibt es Klassik-Komponisten, bei denen das richtige Tempo ganz besonders wichtig ist?

Ja. Drei davon wären Liszt, Beethoven oder Schumann.

Weil?

Weil ihre Werke sehr komplex sind. Das gilt für die Struktur, aber vor allem auch für den Detail-Reichtum. Sie sind voll von herrlichen Nuancen, die man nur geniessen kann, wenn die Musik im richtigen Tempo und auf die richtige Art gespielt wird. Wer mit dem Porsche durch eine malerische Landschaft rast, sieht auch nur das Grosse und Ganze. Klar: Das ist schön. Aber eben, die Details gehen unter.

Wirklich viel verstehe ich nicht vom Notenlesen. Aber sogar ich weiss, dass da doch das Tempo angegeben wird. Bestimmt nicht der Komponist, wie schnell gespielt wird?

Natürlich gibt es Tempo-Angaben. Aber in der Klassik sind einige davon dermassen weit weg von dem, was überhaupt spielbar ist, dass sie kaum nützlich sind. Beethoven ist so ein Fall.

Wieso das?

Vermutlich sind dafür zwei Faktoren entscheidend. Erstens wurden vor 1930 kaum Aufnahmen gemacht. Davor war also nicht wirklich nachvollziehbar, ob das von den Noten verlangte Tempo eingehalten wird. Zudem waren sich die Musizierenden früher auch nicht gewohnt, nach dem «eisernen» Takt eines Metronoms oder den unnachgiebigen Händen eines Dirigenten zu spielen. Heute versuchen zwar einige, Beethoven sozusagen als Sport im «Originaltempo» zu spielen. Aber ich sehe darin keinen musikalischen Gewinn.

Eigentlich wollte mit Ihnen ja über Ihr neues Stück reden. Wie wär’s mit dieser Überleitung: Ist «Lachrimae» schnell oder langsam?

Beides. Auf jeden Fall beruht es nicht auf Virtuositäten. Es soll nicht beeindrucken, sondern zum Blick hinter die Dinge anregen. Das ist auch so ein bisschen der Ursprung für mein Tempo-Projekt. Mir scheint es, wir himmeln als Gesellschaft eine Art Gott der Geschwindigkeit an. Wenn der Zug nach Zürich 1 Minute länger hat, freuen wir uns nicht über die gewonnene Reisezeit, sondern regen uns über den «Verlust» der Minute auf.

Aber «Lachrimae» bedeutet nicht Zeit, sondern Tränen.

Auf Lateinisch, ja, korrekterweise einfach ohne «h». Der Name stammt vom Renaissance-Komponisten John Dowland. In seinem Werk geht es um die «sieben Arten» von Tränen. Wir weinen ja nicht nur aus Tauer; es gibt auch Tränen der Freude, der Ergriffenheit und so weiter. Von Dowland leiht sich mein Stück aber nur den Namen. Es ist ein modernes «Stabat Mater», also der Klagegesang Marias um ihren Sohn am Kreuz. Und es spielt im Spannungsfeld der Tränen, sprich zwischen Kummer und unbändiger Freude. Den passenden Text dazu lieferte die St. Galler Lyrikerin Meie Lutz. Ihre Gedichte drücken genau diese Vielschichtigkeit aus.

Das ist Ihr erstes Stück für die neue Goll-Orgel. Hat Sie das eingeschüchtert?

Gar nicht. Eher inspiriert. Der Surround-Sound dieser Orgel ist einzigartig – genau wie das Ton-Spektrum. Beim Komponieren habe ich versucht, das volle Repertoire auszuschöpfen. Das gilt auch für die herrliche Stimme von Melanie Veser (Mezzosopran) und das grosse Violine-Talent von Elisabeth Kohler.

Verraten Sie mir auch noch, wie man ein Musikstück «erfindet»?

Das ist ein sehr intuitiver Prozess. Ich tauche dabei in eine andere Welt ein… und verliere mich da auch etwas. Vieles geschieht beim freien Improvisieren am Klavier. Aber auch unterbewusst. Irgendwann stösst man «auf Grund», sozusagen auf den eigentlichen «Inhalt», den Kern. Danach geht es darum, das Ganze in eine stimmige musikalische Form zu bringen. Da ist dann vor allem Handwerkskunst gefragt: Was kann ein Instrument? Wieviel darf ich einer Sängerin zumuten? Wie gut funktionieren die Harmonien?

Und natürlich will ich noch wissen: Wie gut gefällt es Ihnen?

Das klingt jetzt vielleicht etwas arrogant: Aber ich bin wirklich sehr zufrieden mit dieser Komposition. Sie besteht auf 10 Sätzen, die alle eine stimmige musikalische Botschaft transportieren. Wenn sie im richtigen Tempo gespielt werden natürlich (lacht).

Festival: Zweite Orgeleinweihung

Die Kirche St. Laurenzen feiert die Fertigstellung der neuen 3D-Goll-Orgel am Wochenende vom 19. bis 21. April mit einem Festival. Bei dieser Orgel handelt es sich um eine weltweit einzigartige Konstruktion mit vier Gehäusen (umschliessen das Kirchenschiff), einem Gesamtgewicht von über 32 Tonnen und 5507 Pfeifen. Der Abschluss dieses «Mammutprojekts» wird mit folgendem Programm gewürdigt:

Freitag, 19. April: Einweihungskonzert mit Bernhard Ruchti (19:30 Uhr)

Samstag, 20. April: Orgelführung mit Simon Hebeisen (Orgelbauer) und Bernhard Ruchti (11:00 Uhr); Kinder-Theater mit Christian Hettkamp, Steven Forster und Bernhard Ruchti (15:00 Uhr); Buch-Vernissage des Orgelbuchs «St. Laurenzen klingt» (17:30 Uhr / Moderation Röbi Koller);

Sonntag, 21. April: Schlusskonzert mit Peter Kofler aus München (17:30 Uhr)

Weitere Infos und Tickets unter: www.laurenzen.ch/festivals

Hier geschieht die Magie: Bernhard Ruchti, der 49-jährige Komponist, Organist und künstlerischer Leiter der Kirche St. Laurenzen, am Flügel in seinem Büro. | © zVg
Kirche St. Laurenzen SG
11. März 2024 | 09:27