Das Meer in «Seenot»

Medienmitteilung 

Das Meer, Lebensgrundlage unserer Erde und grösster Nahrungslieferant der Weltbevölkerung, ist akut bedroht.

 

Rosmarie Bär

 

«Wir haben eine Meereskrise. Wir sind dabei, den Ozean an den Rand des Kollapses zu treiben.» So die klaren Worte der Kieler Ozeanologen bei der Veröffentlichung des Meeresatlas 2017. Das Meer, Symbol der  Unerschöpflichkeit, ist in höchstem Masse bedroht. Es ist verschmutzt, vermüllt, versauert, durch die Klimaveränderung erwärmt. Es wird leer gefischt.

Wie ist es so weit gekommen? Der Ozean sei so gross, so tief und so widerstandsfähig, dass wir ihm alles zumuten können, war unser Irrglaube. In kurzer Zeit hat es die Menschheit fertiggebracht, das gigantische Ökosystem Meer zum Kippen zu bringen. Das folgenschwerste Problem ist die Überfischung. Eine unumstössliche Tatsache wurde ignoriert: Erst die Ozeane machen diese Erde bewohnbar. Jeder zweite Atemzug ist Sauerstoff aus dem Meer. Zerstören wir das Meer, zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage.

 

Fischabhängigkeit

Fisch und Meeresfrüchte sind weltweit immer gefragter. Der Fischmarkt ist ein globaler Markt; Fisch das meist gehandelte Lebensmittel weltweit.

Europa ist der grösste Fisch-Importeur der Welt. Die Gesamtproduktion der EU nimmt von Jahr zu Jahr ab, während der Fischverzehr ständig zunimmt.  Innerhalb weniger Jahrzehnte weitete sich der industrielle Fischfang von den klassischen Fanggebieten auf der nördlichen Halbkugel in alle Meere aus. In unseren Supermärkten landen immer mehr Fische aus den dunkelsten Meerestiefen ferner Kontinente.

Millionen von Menschen in den Entwicklungsländern leben von der Fischerei. Fisch ist ihr Grundnahrungsmittel und ihre wichtigste Proteinquelle; Fischerei  ihr Haupterwerbszweig. Rund 12 Millionen KleinfischerInnen leb(t)en vom Ertrag aus ihren Netzen. Allein in Westafrika arbeiten laut OECD sieben Millionen Menschen im Fischereisektor. In vielen Küstenregionen hängt die wirtschaftliche und soziale Stabilität vom Fischereigewerbe ab.

Der steigende Fischkonsum im globalen Norden hat zunehmend Einfluss auf die Lebensbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern. Die weltweite Ausfuhr stammt zu mehr als der Hälfte aus diesen Nationen. Die wachsende Konkurrenz um ergiebige Fanggebiete gefährdet die handwerkliche Kleinfischerei und die Ernährungssicherheit der Fischerfamilien und der KüstenbewohnerInnen. Olivier de Schutter, ehemaliger UNO-Berichterstatter zum Recht auf Nahrung, hat sich mit dem Fischfang zur Sicherung des Rechts auf Nahrung befasst. Dabei hat er den Begriff «Ocean Grabbing» geprägt – er bedeutet: Das Recht auf Nahrung der betroffenen Menschen wird zunehmend verletzt, ebenso ihr Recht auf Gesundheit. Statt Ernährungssicherheit, statt Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung nehmen Arbeitslosigkeit, Armut  und Hunger zu. Ihrer Lebensgrundlage beraubt, wird für viele junge Männer die gefährliche Überfahrt nach Europa zur einzigen «Hoffnungsreise».

 

Plünderung der Meere

Die Fachwelt ist sich einig: Wir nehmen mehr, als das Meer geben kann. 90 Prozent der Fischbestände sind überfischt oder zusammengebrochen. Die Bestände schrumpfen dramatisch, seit industrielle Fangflotten in immer entlegenere Gebiete vordringen und mit Grundschleppnetzen die Tiefen bis 2000 Meter leer räumen. Dabei dezimieren sie nicht nur die Fischbestände, sie zerstören auch die reiche Meeres-Biodiversität. «Der Krieg gegen die Fische ist ein Krieg gegen uns selbst», so der renommierte kanadische Meeresbiologe Daniel Pauly. Wir sind daran, eine endliche Ressource unendlich auszubeuten. Wird diese Ausbeutung nicht gestoppt, könnten die Meere im Jahr 2050 leergefischt sein.

Afrika «ernährt» Europa! In grossem Stil kauft die EU Entwicklungsländern Fischereirechte ab. Über 20 Fischereiabkommen hat die EU abgeschlossen, um sich den Zugang zu Gewässern vor Westafrika zu sichern. Megatrawler – industrielle, schwimmende Fischfabriken – sind auf Beutezug vor Afrika, selbst in den Küstengewässern. 90 Prozent der vor Namibia gefangenen Fische werden nach Europa exportiert.  Die Netze der Kleinfischer bleiben immer häufiger leer. Zudem wird ein Drittel der gefangenen Meerestiere als ungewollter Beifang gleich wieder über Bord geworfen. Hunderttausende Wale, Delphine, Haie, Vögel, Schildkröten und andere Meerestiere gehen so jedes Jahr zugrunde.  Für jedes Kilogramm Krabben verenden bis zu sieben Kilo Beifang. Übrigens: Der pro-Kopf-Fischverbrauch in Afrika ist nicht einmal halb so hoch wie in Europa.

 

Klimamacher – Klimaopfer

Für das Weltklima sind die Meere entscheidend. Sie speichern Wärme und Wasser, regulieren somit kurzfristig Klimaeffekte. Der CO2-Anstieg in der Atmosphäre bringt das Ökosystem an seine Grenzen. Saurer werdende Ozeane bedrohen die Fischbestände. Mit steigenden Temperaturen sinken die Fangerträge. Die UNO-Botschafterin von Mikronesien erklärte, ihr Volk lebe vom Thunfisch, die steigenden Wassertemperaturen an den Küsten aber würde die Nahrung ihres Volkes auf die Hohe See treiben, in die Netze illegaler Hochseefischer.

Gefahr droht auch durch den Anstieg des Meeresspiegels. Jeder zweite Mensch lebt heute an der Küste. Laut Max-Planck-Institut würde der Meeresspiegel um einen halben Meter pro Jahr steigen, wenn sich die Erde um ein Grad erwärmt. Die Auswirkungen auf das Leben an Land sind dramatisch. Ganze Inseln versinken und grosse Küstengebiete, fruchtbares Land werden überschwemmt und unbewohnbar.

Rettung des Meeres heisst Klimaschutz. Der Kampf gegen die Klimaerwärmung beginnt auf dem Land. Das Instrument dazu ist vorhanden. Die Staatengemeinschaft hat sich mit dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet, die Erderwärmung auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Welchen Nutzen das Einhalten dieses Ziels hätte, haben ein ETH-Forscher und ihre kanadischen Kollegen am Beispiel des globalen Fischfangs berechnet. Die potenziellen maximalen Fangerträge liegen mit jedem Grad eingesparter Erwärmung um drei Prozent höher. Nur rasche und konsequente CO2-Senkung kann das Ökosystem Meer vor dem Kollaps retten. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Staaten, ihre CO2-Ziele zu erfüllen. Das gilt auch für die Schweiz.

 

Bewusstseinswandel

Die Verantwortung für die Zukunft des Blauen Planeten scheint in der Staatengemeinschaft angekommen zu sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der UNO fand im Juni eine Konferenz statt, die sich mit dem Meer als «gemeinsames Erbe der Menschheit» befasste. In einem eindringlichen Appell wies Generalsekretär Guterres die Regierungen darauf hin, dass der Zustand der Ozeane sich weiter verschlechtern werde, wenn sie ihre territorialen und ressourcenbezogenen Interessen nicht schnell überwinden: «Die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Meeresressourcen sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir können es uns nicht leisten, zu versagen.»

Jeder fünfte Einwohner der Malediven fische Thunfisch. «Wir essen ihn zum Frühstück, Mittag und Abendessen. Aber die Welt will Thunfisch, die Welt ruiniert die Bestände», klagte der Botschafter der Malediven. Im Namen des Vatikans warf Kardinal Turkson den Staaten, «die am meisten von den Ressourcen der Meere profitieren», vor, verbindliche Massnahmen und Regelwerke zum Schutz der Ozeane zu blockieren. Das geschehe zum Nachteil der ärmsten Menschen und Länder der Welt.

 

Der Grundstein für die Wende wurde 2012 bei «Rio+20» mit den Zielen für Nachhaltige Entwicklung gelegt. Ziel Nummer 14 der «Agenda 2030» fordert: «Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen». Der Fischfang soll bis 2020 (in 3 Jahren!) wirksam geregelt werden. Um der Überfischung Einhalt zu gebieten, soll Schluss sein mit der illegalen Fischerei und mit zerstörerischen Fangmethoden. Ziel 14b heisst: Der Zugang der handwerklichen Kleinfischerei zu den Meeresressourcen und Märkten ist zu gewährleisten.

Im Nachgang zur Ozeankonferenz hat Generalsekretär Guterres den Fidschianer Peter Thomson zum ersten UNO-Sondergesandten für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Weltmeere ernannt. Er soll die Ergebnisse der Konferenz umsetzen und das Ziel 14 vorantreiben. Der Schutz der Ozeane hat politische Priorität bekommen. Jetzt müssen den Worten Taten folgen.

 

Leuchtendes Beispiel der Selbsthilfe

«Afrika überlebt dank seinen Frauen», ist die senegalesische. Schriftstellerin Ken Bugul überzeugt. Am internationalen Frauentag 2016 trafen sich erstmals Frauen aus 47 afrikanischen Staaten. Sie machten deutlich, dass ohne ihre Arbeit der Fisch aus afrikanischen Gewässern niemals auf die Teller der einheimischen Bevölkerung kommen würde. Fischfang, Fischverarbeitung und Verkauf ist eine feminisierte Wertschöpfungskette. Die Frauen haben sich zu Verarbeitungsgenossenschaften mit eigenen Finanzierungssystemen zusammengeschlossen. Die FAO hat dazu «Leitlinien zum Schutze der Kleinfischerei» erlassen. Sie sind Kompass und Ansporn für Regierungen und NGO, kraftvoll Kurs auf einen nachhaltigen Meeresschutz einzuschlagen. Die Staatengemeinschaft selbst muss sich dringendst zusammenraufen: zu einen nachhaltigen Meeresschutz.

 

Erst die Ozeane machen diese Erde bewohnbar. Jeder zweite Atemzug ist Sauerstoff aus dem Meer. Mit ihm würden wir unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.

 

Blick aufs Meer lenken

Welche Schlussfolgerung haben wir zu ziehen? Wir wissen: So kann es nicht weiter gehen. Der Zustand der Weltmeere ist die Folge unserer globalen Konsum- und Wegwerfgesellschaft, der Gewinnmaximierung  und des Wachstumszwangs.

Die gute Nachricht: Noch liegt es in unserer Hand, zerstörerische Entwicklungen zu stoppen und gemeinsam eine Kultur der Nachhaltigkeit aufzubauen. Zugegeben: Umsteuern ist ein Kraftakt. Aber wir müssen ihn stemmen. Es wird die Bewährungsprobe auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft. Das Meer schützen heisst die Schöpfung bewahren: Vielleicht ist es dieses Gefühl, das Sigmund Freud als eigentliche «Quelle der religiösen Energie» beschrieb.

 

Dieser Beitrag entstammt WeltWeit 6/2017, der Schweizerischen Zeitschrift für Entwicklungspartnerschaft und globale Gerechtigkeit, die am 4. Dezember erscheint. Probe-Exemplare können bezogen werden unter: WeltWeit, Postfach 345, 1701 Freiburg, Tel: 026 422 11 36, info@weltweit.ch www.weltweit.ch

WeltWeit
2. Dezember 2017 | 20:12