Das entzauberte Blutwunder

Neapel klammert sich an den (Aber-)Glauben an San Gennaro. Trotz eines wissenschaftlichen Gutachtens

Von Oliver Meiler, Rom

Wissenschaftler können grausam sein, nachgerade unbarmherzig. Zum Beispiel Margherita Hack, eine italienische Astrophysikerin und Chefin des «Nationalen Komitees zur Kontrolle von Behauptungen zu Paranormalem». Oder anders: Hack und Kollegen gehen jenen Geschichten kritisch nach, die sie wissenschaftlich für hochgradig unwahrscheinlich halten und welche dennoch viele Menschen in ihren Bann ziehen oder ganze Pilgerströme auslösen – so genannte Wunder: tränende Madonnen etwa oder Gesichter auf Leintüchern. Das Komitee relativiert die Fälle dann mit diabolischer Nüchternheit in der Presse.

Diesmal ist St. Januarius dran, San Gennaro, der Heilige Neapels, enthauptet 305 n. Chr. von Adlaten des Kaisers Diokletian. San Gennaro gilt der Kirche als Märtyrer. Im Dom von Neapel wird eine Reliquie aufbewahrt mit zwei kleinen Silberampullen, in denen es geronnenes Blut des Heiligen hat. Sagt man.

Alles dank blossem Schütteln

Dreimal im Jahr werden sie vor den Altar getragen, die grosse Kirche ist dann jeweils zum Bersten voll, der Kardinal hält die Ampullen in die Höhe, dreht sie, schüttelt sie sanft unter den angespannten Blicken und den Gebeten von Alt-Kommunisten und Camorristi, Fussballern und Lottospielerinnen.

Das davor braune Blut wird rubinrot und verflüssigt sich; dies kann allerdings Stunden dauern, Tage, manchmal Wochen. Zuweilen hilft man mit Kanonenschüssen nach. Doch wenn es geschieht, geht ein Raunen durch die Reihen. Man ist dann erleichtert. Trat das Mirakel einmal nicht ein, was eher selten vorkam in den letzten sechs Jahrhunderten, mussten Katastrophen befürchtet werden: ein Ausbruch des Vesuvs zum Beispiel, ein Krieg vielleicht oder ein Abstieg des städtischen Fussballvereins in die unerträgliche Zweitklassigkeit. Ein klassischer Fall also für Margherita Hack. Und sie erklärt sich das so: In den Ampullen hat es ein Gemisch chemischer Substanzen, die man auch im Blut findet. Es handle sich dabei um eine Art Gel, fabriziert im Mittelalter (also lange nach dem Tod des Heiligen), der sich beim Schütteln verflüssige und die Farbe ändere. Die Wissenschaftlerin geht in ihrem Gutachten noch etwas weiter und liefert das genaue Rezept für eine hausgemachte Reproduktion des «Wunders». Und das alles just zum 1700. Todestag des Januarius! Am abergläubischen Brauch wird die wissenschaftliche Entzauberung jedoch wenig ändern.

Die Neapolitaner mögen Wunder und das Spektakel darum. Die meistgehörte Reaktion in den Medien auf Hacks Gutachten war denn auch: «So lasst uns doch den Glauben daran.»

Reliquie wird im Safe verwahrt

Der Vatikan übrigens, dem Wunderglauben sonst keineswegs abhold, spricht im Falle San Gennaros nicht von «Wunder», sondern nur von einem «wunderbaren Ereignis». Ein Öffnen der Ampullen aber liess die Kirche nie zu. Die Reliquie wird in einem Safe im Dom verwahrt.

Tages-Anzeiger
21. September 2005 | 12:57