Biodiversität – die bedrohte Lebensgrundlage

Das Artensterben und der massive Schwund der Artenvielfalt sind weltweit dramatisch.

Rosmarie Bär

2020 hätte das Jahr der Biodiversität werden sollen. In der chinesischen Stadt Kunming war die UNO-Vertragsstaatenkonferenz der «Konvention über die biologische Vielfalt» angesagt. Zur Erhaltung und dem Schutz der biologischen Vielfalt muss ein neuer globaler Vertrag ausgehandelt werden. Dringende politische Massnahmen sind erforderlich, denn bisher wurde das Ziel, den dramatischen Arten- Schwund zu stoppen, krachend verfehlt. Dann kam Corona. Und damit die Verschiebung der Konferenz auf 2021.

Vernetzte Welt

Biodiversität ist die Lebensgrundlage unseres Planeten. Sie ist die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt, die Vielfalt aller lebenden Organismen, der Lebensräume und Ökosysteme und der genetischen Vielfalt zu Land, in den Flüssen und Seen, in den Meeren und in der Luft. Kein Lebewesen lebt für sich allein. Jede einzelne Spezies hat eine Funktion im Ökosystem und einen Wert an sich. Alle sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Auch wir Menschen sind Teil der Biodiversität und auf sie angewiesen. Diese Wahrheit zu negieren, hat zur heutigen globalen Krise geführt.

Alarmierende Fakten

In einem aufrüttelnden Bericht hat der Weltbiodiversitätsrat letztes Jahr Alarm geschlagen. Die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt nimmt dramatisch ab und das Artensterben in einer solchen Geschwindigkeit zu, dass die Wissenschaft von einer Biodiversitätskrise spricht. «Die Biodiversität ist aktuell so stark gefährdet wie noch nie zuvor in der Menschheits- oder sogar Erdgeschichte», mahnt Prof. Florian Altermatt, Präsident Forum Biodiversität Schweiz.

Was sind die Ursachen? Haupttreiber sind die industrielle Landwirtschaft mit ihrem grossen Einsatz von Pestizid und Dünger, grossflächige Monokulturen, Zerschneiden zusammenhängender Ökosysteme durch Strassen, Schienen, Zersiedelung der Landschaft, Umweltverschmutzung, Abholzung der Regenwälder, die Klimaveränderung. Überfischung hat das Ökosystem der Meere aus dem Gleichgewicht gebracht. Fazit: Das Artensterben hat verschiedene Ursachen. Aber fast überall und immer ist der Mensch dafür verantwortlich. «Die Nutzung und Übernutzung natürlicher Ressourcen durch den Menschen hat beispiellose Züge angenommen», klagt der Rat. Ein Beispiel dafür? Am 8. Mai war «Swiss Overshoot Day»: Bis zu diesem Tag hat die Bevölkerung der Schweiz bereits mehr natürliche Ressourcen verbraucht, als ihr fürs ganze 2020 zustehen. Wir leben die restlichen sieben Monate auf Kosten kommender Generationen!

Multiple Krisen

Das Corona-Virus hat uns eine Tatsache ins Bewusstsein gebracht, die für Viele neu ist: Die Pandemie ist nicht eine Naturkatastrophe wie ein Tsunami oder ein Erdbeben. Sie ist eine von Menschen verursachte Krise. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schrieb schon vor zehn Jahren: «Der Verlust der Biodiversität und der Wandel der Ökosysteme können das Risiko des Ausbruchs und der Verbreitung von Infektionskrankheiten bei Tieren, Pflanzen und Menschen erhöhen. Je näher die Menschen den Wildtieren rücken, je schneller sie in deren letzte Zufluchtsorte eindringen, desto grösser die Gefahr, dass Viren vom Tier auf den Menschen überspringen. Gesunde Ökosysteme und gesunde Wälder sind unser bester Schutz gegen Viren. Fazit: Verantwortungsvoll handeln heisst in Zukunft nicht nur Beatmungsgeräte und Schutzmasken kaufen und Wildtiermärkte verbieten. Nachhaltiger Schutz einer vielfältigen Biodiversität ist das Gebot der Stunde. Mehr noch, «der Verlust der Artenvielfalt ist genau wie der von Menschen verursachte Klimawandel nicht nur ein ökologisches Problem. Er ist ebenso ein wirtschaftliches, soziales, moralisches aber auch ethisches Thema», ist Robert Watson, Präsident des Weltbiodiversitätsrates überzeugt. Heinz Wanner, emeritierter Professor für Klimatologie der Uni Bern doppelte zu Beginn der Pandemie nach: «Wir müssen aufhören, die Krisen getrennt voneinander zu betrachten. Corona ist der Ausdruck einer ökologischen Verbundkrise.»

Bedenkliche Schweizer Bilanz

Es steht schlecht um die biologische Vielfalt in unserem Land. Dies, obwohl die völkerrechtlich verbindliche Biodiversität-Konvention seit 1995 in Kraft und der Schutz der Lebensgrundlagen ein Verfassungsauftrag ist (Art. 78, Abs. 4), und trotz Umwelt-, Gewässer-, Heimatschutz, Wald- und Fischereigesetz. Die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der heimischen Tier- und Pflanzenarten sind gefährdet, deutlich mehr als in den meisten EU-Ländern, schreibt das Bundesamt für Umwelt im Bericht «Biodiversität in der Schweiz: Zustand und Entwicklung». Das ist die Folge eklatanter Vollzugsdefizite bei Bund und Kantonen. Vieles, was die Schweiz lebenswert macht, was Gefühl von Heimat vermittelt, ist in Gefahr oder schon zerstört. Immer mehr Boden wird zubetoniert, fruchtbares Kulturland verbaut. Der Rückgang artenreicher Trocken- und Bergwiesen führt zum Verlust wertvoller Lebensräume. 40 Prozent der Brutvögel sind bedroht. Auch den Fischen geht es schlecht. Die Aare hat einen dramatischen Rückgang der Bachforellen, im Zürichsee verschwinden die Felchen. Ein Vergleich mit unseren Nachbarländern zeigt, dass die Schweiz europäisches Schlusslicht bei den Schutzgebietsflächen ist.

Insekten: mehr als Honig

Die Alarmglocke läutet nicht «nur» für Eisbären und Pinguine, denen die Lebensgrundlage wegschmilzt, nicht «bloss» für die Orang-Utan, denen ihre Wälder zerstört werden. Das Alarm-Zeichen für den globalen Verlust der Artenvielfalt ist das grosse Insektensterben. Von den Ameisen über die Bienen, die Grillen bis zum Zitronenfalter sind alle bedroht. Alle, mit und ohne Flügel. Eine Welt ohne Insekten «funktioniert» nicht mehr. Die meist kleinen Wesen sind für das Zusammenleben unserer Ökosysteme entscheidend. Sie bestäuben Pflanzen, beseitigen tote Organismen, verbessern die Bodenqualität und vertilgen schädliche Artgenossen, und sind Nahrungsgrundlage. Untrennbar mit den Insekten ist die Landwirtschaft verbunden. Unsere Ernährung und die Ernährungssicherheit sind davon abhängig. Der grösste Teil der Pflanzenwelt ist auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Aber gerade die industrielle Landwirtschaft mit ihren Monokulturen nimmt den Insekten ihre Lebensräume und ihre Nahrung. Trotzdem sieht hier die Politik – auch in der Schweiz – bis anhin keine Handlungspriorität. In vielen Ländern ist es die Zivilgesellschaft, die sich für den Erhalt der Lebensgrundlagen einsetzt. In der EU mit «Save Bees and Farmers»: «Wer unsere Nahrungsmittelversorgung sicherstellen will, muss das Artensterben stoppen. Wer das Artensterben stoppen will, muss den Pestizideinsatz reduzieren. Wer den Pestizideinsatz reduzieren will, muss eine kleinteilige, ökologische Landwirtschaft fördern. In der Schweiz haben Umwelt- und Naturschutzorganisationen letztes Jahr die Biodiversitäts- und die Landschaftsinitiative lanciert. Beide sind in kurzer Zeit zustande gekommen.

Mit dem Aussterben der Insekten verschwinden die Vögel, die sich von Insekten ernähren. Auch unsere einheimischen Vögel, die Feldlerche, die Amsel, der Spatz, die Schwalben. Diese galten früher auf dem Lande als Glücksbringer. Ihre Ankunft war hoffnungsvolles Zeichen: Der Winter geht, es wird Frühling. Die Biologin Rachel Carson hat in ihrem wissenschaftlichen Bestseller «Der stumme Frühling» das Verschwinden der Vögel durch den Verlust ihrer Nahrungsgrundlage beschrieben. Es war die Analyse des grossen Vogelsterbens von 1961 in den USA. Dies war eine Folge des flächendeckenden Einsatzes des Pflanzengiftes DDT zur Schädlingsbekämpfung.

2020 – das Jahr der Wende?

Ist Corona der «heilsame Einbruch des Unerwarteten»? Sehen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Chance, die in dieser Krise liegt? Kann das Virus zum Kairos, zum entscheidenden Augenblick werden? Oder ist der Ruf «Zurück zur Normalität» stärker? Eines ist klar: Es muss schnell gehandelt werden. «Wir wissen, dass das ein kritischer Moment in der Menschheitsgeschichte ist», so der Biodiversitätsrat. Viele Experten mahnen, dass ohne radikale und rasche Änderungen unserer Wirtschafts- und Lebensweise bereits in 80 Jahren mehr als die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind und die bewohnbaren Lebensräume durch die Klimaveränderung immer kleiner werden. Mit anderen Worten: Ursachenbekämpfung der multiplen Krise heisst, Schluss mit dem Ressourcen verschwenderischen Wirtschaftssystem. Die planetarischen Grenzen müssen den unverrückbaren Rahmen jeder politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit bilden. Auf dem (schwierigen) Weg dorthin kommt dem Staat auf allen Ebenen die entscheidende Rolle und Verantwortung zu. Rachel Carson widmete «Der stumme Frühling» dem Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer. In einer Phase grosser Müdigkeit und Verzagtheit hat er die Handlungsmaxime «Ehrfurcht vor dem Leben» geprägt. Sie ist wichtiger denn je. Damit könnte 2020 zum Jahr der Wende werden.

Dieser Beitrag ist Teil des Themendossiers von WeltWeit 5/2020, der Schweizerischen Zeitschrift für Entwicklungspartnerschaft und globale Gerechtigkeit, die anfangs Oktober erscheint. Probe-Exemplare können bezogen werden unter: WeltWeit, Postfach 345, 1701 Freiburg, Tel: 026 422 11 36, info@weltweit.ch www.weltweit.ch

WeltWeit
3. September 2020 | 11:23