Beten wie Hanna

Woher wissen Jüdinnen und Juden, wie sie beten sollen? Von Hanna! Denn die Frau aus dem ersten Samuel-Buch, die Gott um einen Sohn bittet (1 Samuel 1,1-20), hat die Rabbinen beim Definieren des persönlichen Gebets mehr geprägt als jede andere biblische Figur. Wo die Gelehrten im talmudischen Traktat Berachot die Bestimmungen diskutieren, die für das Gebet gelten sollen, nehmen sie mehrfach Bezug auf Hannas Verhalten während ihres Besuchs im Tempel zu Schilo.

Eine kinderlose Frau als Vorbild

Um Nachwuchs beten

«Seid fruchtbar und mehrt euch», gebietet Gott dem Menschen in Genesis 1,28. Es ist das erste Gebot der Tora überhaupt. Vielen biblischen Frauenfiguren ist es allerdings nicht vergönnt, ihm auf Anhieb zu entsprechen. Sara, Rebekka oder Rahel etwa werden erst spät Mütter (Genesis 16,1; 25,21; 29,31). Hanna teilt dieses Schicksal. Die geliebte Ehefrau Elkanas wird – im Gegensatz zur Zweitfrau Pennina – nicht schwanger und fühlt sich, unter der Kinderlosigkeit leidend, von ihrem Mann unverstanden. In der Not macht sie sich allein auf in den Tempel von Schilo, um ihre Trauer und Sehnsucht vor Gott zu bringen: «Sie aber war tief betrübt und betete zum Herrn und weinte heftig» (1 Samuel 1,10). Der Priester Eli beobachtet sie. Er ist nicht überrascht, dass eine Frau allein in den Tempel kommt. Hingegen irritiert ihn die Lautlosigkeit ihres Gebets. «Hanna redete nämlich in ihrem Herzen, nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber war nicht zu hören» (1 Samuel 1,13). Weil er dieses stille Murmeln nicht einordnen kann, hält er sie für betrunken.

Vorbild fürs persönliche Gebet

Weder Hanna noch Eli konnten ahnen, dass diese Begebenheit den Rabbinen einst beim Definieren des persönlichen Gebets als Vorbild dienen sollte. «Sie redete in ihrem Herzen (1 Samuel 1,13): Daraus [lernen wir], dass der Betende sein Herz andächtig stimmen muss», überliefert der Babylonische Talmud im Traktat Berachot (31a). Und: «Nur ihre Lippen bewegten sich: Daraus [lernen wir], dass der Betende mit seinen Lippen deutlich spreche. Ihre Stimme aber war nicht zu hören: Daraus [lernen wir], dass man beim Beten die Stimme nicht erheben darf» (ebd.). Beide, Hanna und Eli, tragen allerdings wesentlich dazu bei, den Weg dafür zu ebnen: Sie, indem sie ihm erklärt, was es mit ihrem andächtigstillen Murmeln auf sich hat, und er, indem er ihr zuhört und bereit ist, seine Beurteilung der Lage zu überdenken. Hannas Mut, Elis Verdacht zu entkräften, bewegt die Rabbinen schliesslich zu einer weiteren Erkenntnis: «Ich habe weder Wein noch Bier getrunken (1 Samuel 1,15). Rabbi

Eleazar sagte: Daraus [lernen wir], dass wenn jemand [zu Unrecht] einer Sache verdächtigt wird, man [die Person, die den Verdacht hat, darüber] aufklären muss» (Babylonischer Talmud, Berachot 31b). Beten – ein menschliches BedürfnisAuf den ersten Blick mag erstaunen, dass die Rabbinen die Regeln des Gebets anhand einer weiblichen biblischen Figur erläutern. Denn die patriarchale Weltsicht der Rabbinen prägte den Talmud und die darin überlieferten gesetzlichen Anordnungen. So wird der Mann etwa zu mehr Geboten und Ritualen verpflichtet als die Frau, was im rabbinischen Verständnis als Privileg gilt. Zum persönlichen Gebet aber verpflichten die Rabbinen Frauen und Männer gleichermassen: «Frauen, Sklaven und Kinder sind befreit vom Lesen des Schma [HöreIsraelGebet] und von den Tefillin [Gebetsriemen], sind aber verpflichtet zum Gebet» (Mischna, Berachot 3,3). Sie bekennen sich damit zum allgemeinmenschlichen Bedürfnis, sich betend an Gott zu wenden – unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialem Status.

Stilles Gebet erhört

Was bewog die Rabbinen dazu, Hanna beim Regeln des persönlichen Gebets als Vorbild zu nehmen? Vermutlich waren es die verschiedenen Eigenschaften, die die kinderlose Frau beim Besuch des Tempels zum Ausdruck brachte: Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Konzentration, Eigeninitiative. Hanna nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, nachdem Elkana ihr weder das erhoffte Verständnis für ihre Not entgegenbringt noch den Handlungsbedarf erkennt. Sie agiert indes auf ihre Weise: Bescheiden und demütig steht Hanna vor Gott. Wofür sie innig und aufrichtig bittet, bleibt zwischen ihr und Gott. Kein menschliches Ohr vermag ihr Gebet zu hören, nicht einmal der Priester Eli, der direkt neben ihr steht. Hannas stilles, konzentriertes, persönliches Gebet wird belohnt. Eli segnet sie: «Geh in Frieden! Und der Gott Israels möge dir geben, was du von ihm erbeten hast» (1 Samuel 1,17). Und Gott schenkt ihr den ersehnten Sohn, der als Prophet Samuel in die Geschichte eingehen sollte. Die Gunst Gottes, um die Hanna bittet, verleiht ihr auch ihren Namen (חנה; Chana): «Deine Sklavin möge Gnade [חן; chen] finden in deinen Augen» (1 Samuel 1,18). Sie erwidert sie später, indem sie ihr Gelübde einlöst und ihren Sohn Gott und dem Tempeldienst widmet (1 Samuel 1,11.24–28).

Neujahrsfest erinnert an Hanna

Hanna dankt Gott für die ihr erwiesene Gunst in einem Loblied, das der biblische Text ausführlich überliefert (1 Samuel 2,1–10). Elemente daraus sind später in die jüdische Liturgie eingeflossen und finden sich unter anderem im Gebetbuch von Jom Kippur (Versöhnungstag). Die Rabbinen verleihen Hannas Geschichte weiteres Gewicht: Im Anschluss an die Toralesung (Haftara) am ersten Tag des Neujahrsfestes RoschHaschana erfolgt die Lesung aus den Propheten mit den Versen 1 Samuel 1,1–2,10. Jahr für Jahr wird das Schicksal dieser zunächst kinderlosen Frau, die zu einer «Mutter des persönlichen Gebets» geworden ist, an diesem hohen Feiertag erzählt. Die Rabbinen erklären die Wahl der Prophetenlesung damit, dass sich Gott am Neujahrsfest sowohl Saras – von deren späten Schwangerschaft in der Toralesung von Rosch Haschana erzählt wird – als auch Hannas angenommen und erinnert habe (Babylonischer Talmud, Rosch Haschana 11a).

Ausgerechnet Hanna

Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Konzentration und Eigeninitiative: Eigenschaften wie diese bieten den Rabbinen Grund genug, die betende Hanna im Talmudtraktat Berachot ins Zentrum zu rücken. Hinzu kommt, dass die Erzählung von Hanna mehrere Facetten des Gebets vereint: Bitte und Dank sowie die Verehrung und Lobpreisung Gottes. Dennoch ist es sehr ungewöhnlich, dass eine Frau beim Regeln des persönlichen Gebets so explizit als Vorbild dient. Mit Leichtigkeit hätten sich die Rabbinen stattdessen auf biblische Männerfiguren stützen können, so auf Protagonisten aus der Tora, die sie im Vergleich zu den Propheten und Schriftenbüchern höher gewichten. Auf Abraham zum Beispiel (Genesis 20,17), dessen Diener (Genesis 24,12–14), Isaak (Genesis 25,21), Jakob (Genesis 32,10–13) oder Moses (Numeri 12,13). Auf diese verweisen sie etwa bei der Diskussion der Frage, ob das dreimal täglich still zu verrichtende AmidaGebet, auch Achtzehngebet genannt, biblischen oder rabbinischen Ursprungs sei. Hier wird im Namen eines Gelehrten überliefert, dass das Morgengebet auf Abraham zurückgehe, das Nachmittagsgebet auf Isaak und das Abendgebet auf Jakob (Babylonischer Talmud, Berachot 26b).

Gleichgestellt

Für das persönliche Gebet dient aber Hanna und nicht einer der Stammväter als Vorbild. Das lässt vermuten, dass die Rabbinen hier mehr als die Bestimmungen überliefern wollten, die beim Gebet gelten sollen. So auch die Botschaft, dass das Gebet jedem Menschen und damit explizit auch den Frauen offensteht. Dadurch, dass eine weibliche biblische Figur und nicht wie üblich eine männliche die Vorbildrolle für ein bedeutendes Ritual einnimmt, wäre es – auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – eine grosse argumentative Herausforderung, den Frauen das Praktizieren dieses Rituals vorzuenthalten. Es scheint, als hätten die Rabbinen mit Hanna als Vorbild dafür gesorgt, dass das persönliche Sprechen zu Gott niemals allein dem Mann zugestanden werden kann. Auch die im Vergleich zu den Männern zu weniger Geboten verpflichteten und deshalb weniger privilegierten Frauen sollten stets nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Recht auf das persönliche Gebet besitzen – und damit gleichzeitig die Pflicht dazu. Diese präventive Massnahme hat sich bewährt: In der rabbinischen Literatur gilt es als unbestritten, dass die Frau in Bezug auf das persönliche Gebet grundsätzlich dieselbe Verpflichtung hat wie der Mann. Woher wissen Jüdinnen und Juden, wie sie beten sollen? Von Hanna! Und woher lernt die jüdische Tradition, dass Mann und Frau hinsichtlich persönlichem Gebet gleichgestellt sind? Von Hanna!

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Valérie Rhein, Dr. theol. in Judaistik; Forschungsschwerpunkte: Religionspraxis der Frau in der rabbinischen Literatur der Antike und im zeitgenössischen modernorthodoxen Judentum.