Aufbruch Nummer 231: Alt-Abt Martin Werlen fordert mehr Mut zu Veränderung in der Kirche

Medienmitteilung: Die Welt der Bilder und der unsichtbare Gott

Martin Werlen, der langjährige Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln, hat seine Kirche ermuntert, sich mehr als bisher von überkommenen Traditionen zu lösen. Die katholische Kirche habe im Laufe ihrer Geschichte von Menschen gemachte Traditionen übernommen, die wandelbar seien. «Wir müssen den Mut haben, diese Traditionen loszulassen», betont der Schweizer Benediktiner-Pater in einem Interview, das die Zeitschrift aufbruch in ihrer neusten Ausgabe vom 29. März veröffentlicht hat. Als Beispiel nennt Werlen, der von 2001 bis 2013 an der Spitze des Klosters Einsiedeln stand, das Pflichtzölibat, das es Priestern verwehrt zu heiraten. Wenn die für 2019 geplante Amazonas-Synode das Zölibat aufheben würde und verheiratete Männer zum Priesteramt zuließe, «wäre das ein sehr beeindruckender Schritt». Er hätte «Vorbildcharakter für die ganze Kirche», erklärt der Alt-Abt, der seine Kirche wiederholt zu Reformen aufgerufen hat. Im Das aufbruch-Gespräch mit Martin Werlen finden Sie unten.

Die Welt der Bilder und der unsichtbare Gott. Heraldische Piktogramme sind im Digital-Zeitalter

in drei Sekunden verständlich. Das ist gut für die PR, aber brandgefährlich für die Glaubwürdigkeit der Reformierten. Das gesprochene Wort hat an Macht und Einfluss eingebüsst und weicht einem Meer von farbigen Pixeln. Doch wie viele bunte Bilder verträgt die Kirche? Gilt wirklich nur noch das, was sichtbar und offensichtlich verständlich ist und ist das Nicht-Bildliche demnach inexistent? Lässt sich die Existenz des Göttlichen oder der Liebe nur mit Hilfe von Bildern, also mit symbolischen, ikonischen Darstellungen beweisen? Der reformierte Pfarrer Philipp Koenig ist anderer Meinung.

Mister Tagesschau Heiri Müller hat dank der Macht des Fernsehbildes Promistatus erlangt. Für den Pfarrerssohn spielten Religion und Ethik schon früh eine wichtige Rolle. Heute macht er Musik und gibt Konzerte: »Konzertbesucher und Musiker stellen eine soziale Gemeinschaft dar« . Im Hand-und Herz-Gespräch erläutert Müller, warum er sich hingezogen fühlt zu Menschen, denen es nicht so gut geht

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»Da hilft kein Pflästerchen«

Für Reformen in der Kirche ist es »zu spät«, sagt Martin Werlen, Alt-Abt des Klosters Einsiedeln. Sein gleichnamiges Buch führte über Wochen die Schweizer Bestsellerliste an. Ein Gespräch über Bibel und Hoffnung

aufbruch: Pater Martin, wofür ist es denn zu spät?

Werlen: Wenn wir in der Kirche da oder dort eine Kleinigkeit verändern, ist das zwar ein Zeichen, aber es kommt zu spät. Gutgemeintes kann sogar peinlich wirken. Seit Papst Benedikt XVI. wird zum Beispiel einmal im Monat eine Tagesausgabe der Vatikanzeitung Osservatore Romano von Frauen redigiert. Das ist ein schönes Zeichen, doch in der Frauenfrage hilft kein Pflästerchen. Es ist zu spät. Wir müssen zu dieser Einsicht stehen und sie anerkennen. Erst dann erwachsen wieder neue Freiräume, um zu fragen: Was heißt das? Was will Gott uns in dieser Situation sagen? Ich bin überzeugt, dass die Lösung nicht in Vorschlägen liegt, für die wir lange gekämpft haben. Sondern es werden uns ganz neue Zugänge geschenkt werden, wenn wir offen sind und hören. Diese Zugänge finden wir nicht, wenn wir verkrampft für den einen oder anderen Lösungsvorschlag als Weg aus der Kirchenkrise streiten.

Für Christen sollte es doch nie zu spät sein. Oder sehen Sie das anders?

Werlen: Mir ist aufgegangen, dass die Heilige Schrift voll ist von Situationen, in denen es eigentlich zu spät ist. Wir sind in der Versuchung, diese Situationen nicht wahrzunehmen.

An welche Bibelstellen denken Sie?

Werlen: Zum Beispiel an den Karfreitag. Wir übergehen ihn gewöhnlich, indem wir sagen, ja, aber nachher kommt ja noch die Auferstehung. Dadurch nehmen wir die Situation der Jüngerinnen und Jünger nicht ernst. Für sie war der Aufbruch mit dem Mord an Jesus am Karfreitag definitiv vorbei. Das zeigt die Geschichte der Emmaus-Jünger deutlich. Sie hatten ihre Hoffnung auf Jesus gesetzt, und nun ist er als Verbrecher hingerichtet worden. Jetzt ist es zu spät! Wir verkünden nicht die Hoffnung, dass alles wieder so wird, wie es war, sondern eine Hoffnung, die durch alles trägt, auch durch den Tod. Dazu muss man aber erst einmal den Tod ernst nehmen. Übertragen auf die Kirche heißt das: Traditionen sterben lassen.

Welche Traditionen sollte man sterben lassen?

Martin Werlen: Immer, wenn jemand sagt, eine Änderung liege nicht in der Kompetenz der Kirche, steigt die Frage nach der Unterscheidung von Tradition und Traditionen in mir auf. Betrifft unser Unbehagen das Glaubensgut, die Tradition, oder gewordene, menschengemachte Traditionen, die im Laufe der Geschichte wandelbar sind? Wir müssen den Mut haben, diese Traditionen loszulassen. Wenn die Amazonas-Synode 2019 den Pflichtzölibat aufheben würde und verheiratete Männer, viri probati, zum Priesteramt zuließe, wäre das ein sehr beeindruckender Schritt. Er hätte Vorbildcharakter für die ganze Kirche. Dabei beeindruckte mich umso mehr, dass dieses Vorbild von einer Region käme, die in unserer Wahrnehmung sonst eher am Rande steht.

Wie kann die Kirche eine Sprache finden, die wieder Brücken zu den Menschen baut?

Werlen: Ich bin ein suchender Anfänger. Für mich persönlich ist es das größte Geschenk, dass ich nicht Auto fahren lernte. So bin ich immer mit dem Zug oder per Autostopp unterwegs und komme zufällig mit Menschen in Kontakt. Erstaunlich ist, wie schnell man auf Glaubensfragen zu sprechen kommt, dies aber nicht in einer theologischen Sprache, sondern einfach im Gespräch über die Dinge, die mein Gegenüber beschäftigen. In diesen Gesprächen und Begegnungen ist Gottsuche konkret erfahrbar. Die Bettler in der Nacht, die mich eingeladen haben, mich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu reden. Oder ein Flüchtling, der mir auf dem Handy die Fotos seiner Familie zeigt: In solchen Begegnungen merke ich plötzlich, Gott ist gegenwärtig.

Wie ist Gott da gegenwärtig?

Werlen: Vielleicht ist es das große Problem, dass wir meinen, Gott vorschreiben zu wollen, wir er gegenwärtig zu sein hat. Ein Beispiel: Vor einigen Wochen klingelte ein 23-jähriger obdachloser, völlig verwahrloster, schwer drogenkranker Mann an unserer Klosterpforte. Ich begleitete ihn dann einige Tage bis zum Antritt seiner zweijährigen Haftstrafe. Noch nie habe ich in so kurzer Zeit so viel über das Leben gelernt wie von diesem jungen Mann, der nur mit einer Schlafmatte und einem Rucksack mit seinen sieben Sachen unterwegs war. Als Benediktiner, der versucht, in Armut und Schlichtheit zu leben, muss ich sagen: Es ist Christus, der uns in diesem jungen Mann begegnet und so vieles lehrt. Wir können an ihm vorbeigehen, unsere Türen verschlossen halten und darüber schimpfen, dass wir in einer gottlosen Welt leben. Wir sind es, die Christus nicht in unser Leben lassen. Das hat mich dieser junge Mann, der jetzt seine Gefängnisstrafe antritt, gelehrt.

Wie sieht Ihre persönliche Hoffnung für die Kirche der Zukunft aus?

Werlen: Wohltuend und spannend finde ich, dass auch der Papst nicht weiß, wie diese Hoffnung konkret aussieht. Miteinander müssen wir den Weg gehen, wie er das so verständlich und treffend in dem Lehrschreiben »Evangelii Gaudium« dargestellt hat. Er hat die Türen geöffnet, aber viele Bischöfe bleiben stehen, obwohl sich Perspektiven für eine synodale Kirche des Miteinander-Suchens auftun. Das bedrückt mich. Der Papst weiß, dass sich Gott in jedem Menschen äußern kann – in jedem, und nicht nur durch Getaufte. Das ist eine hoffnungsvolle Sprache des Aufbruchs, die offen ist für die Menschen.

Interview: Wolf Südbeck-Baur

aufbruch
30. März 2018 | 10:20