Pater Martin Werlen
Schweiz

Martin Werlen: Kurt Koch sollte in die Ukraine reisen

Martin Werlen feiert am 28. März seinen 60. Geburtstag. Der ehemalige Abt des Klosters Einsiedeln wünscht sich von der Schweizer Bischofskonferenz mehr Kreativität und mehr Impulse. Ein Gespräch über den Ukraine-Krieg, seine Weigerung, einen Führerausweis zu machen – und die Vision einer synodalen Kirche.

Raphael Rauch

Was bedeutet Ihnen Ihr 60. Geburtstag?

Martin Werlen*: Wenig. Er kommt nicht überraschend. Das Datum steht seit 60 Jahren fest (lacht).

Sie haben immer noch keinen Führerausweis gemacht. Ändert sich das im siebten Lebensjahrzehnt?

Werlen: Nein. Die wichtigsten Begegnungen meines Lebens schenkte mir Gott, weil ich keinen Führerschein habe – im Zug, im Bus, beim Autostopp oder auf dem Weg zu den Stationen. Ich bin überzeugt: Es war die wichtigste Entscheidung meines Lebens, keinen Führerausweis zu machen.

«Darum sollte es uns als Kirche gehen: alles dafür tun, dass die Menschen aufatmen können.»

Was erzählen Ihnen die Menschen im Auto oder im Zug?

Werlen: Letztlich geht es um die Sehnsucht nach Erlösung, auch wenn dieses Wort viel zu abstrakt ist. Die Menschen suchen das Leben. Sie wollen aufatmen und aufleben können. Und darum sollte es uns als Kirche gehen: alles dafür tun, dass die Menschen aufatmen können.

Können wir zurzeit aufatmen?

Werlen: Der Krieg in der Ukraine beschäftigt mich sehr. So eine globale Krise hatten wir schon lange nicht mehr. Ich denke an die Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen. Kein Land ist vor diesem Krieg und seinem Potential sicher. Auch wenn er geografisch begrenzt bleibt, was wir hoffen können: Wir sind alle davon betroffen. Die Ukraine hat grosse Getreidefelder für die ganze Welt. Der Hunger auf der Welt wird grösser.

«Solidarität mit der Ukraine. Stoppt den Krieg jetzt!», lautet das Motto der Demonstration in Bern am 19. März 2022.
«Solidarität mit der Ukraine. Stoppt den Krieg jetzt!», lautet das Motto der Demonstration in Bern am 19. März 2022.

Wie antworten Sie in der Propstei St. Gerold in Vorarlberg auf den Krieg in der Ukraine?

Werlen: Vor drei Wochen bin ich zur Caritas gegangen und habe zwei Wohnungen zur Verfügung gestellt, wo Frauen mit ihren Kindern unterkommen können. Unser Angebot der Arbeit mit Therapie-Pferden weiten wir für traumatisierte Menschen auf der Flucht aus. Zwei Mitarbeiterinnen sprechen ukrainisch oder russisch. Bislang wurde uns noch niemand zugewiesen, aber wir sind parat.

«Wir richten unser Augenmerk auf die Freiwilligen in der Ukraine-Hilfe.»

Welches Schicksal berührt Sie besonders?

Werlen: Eine Gruppe von Menschen ist bisher kaum thematisiert, auf diese wollen wir in St. Gerold ein besonderes Augenmerk richten. Es sind diejenigen, die seit vier Wochen an der Grenze zur Ukraine Menschen empfangen. Ich bin mit einem Mitarbeiter in einem Kloster in Rumänien in Kontakt, 20 Kilometer von der Grenze. Seit vier Wochen kommen dort ununterbrochen Flüchtlinge an, Tag und Nacht. Es gibt keine ruhige Stunde. Wenn die Menschen kommen, legen sie sich nicht einfach zufrieden hin, sondern weinen, erzählen, schreien. Diesen Mitarbeiter, der am Ende seiner Kräfte ist, habe ich zum Aufatmen nach St. Gerold eingeladen. Diese Woche kann er nicht wie geplant kommen, weil zwei Mitarbeiterinnen soeben ausgestiegen sind – aus Überlastung. Wir müssen auch an die vielen Helferinnen und Helfer denken, die sich verausgaben.

Im Sommer 2015 gab es eine grosse Solidarität mit Flüchtlingen – bis diese in der Kölner Silvesternacht gekippt ist. Was muss getan werden, dass die Solidarität möglichst lange anhält?

Werlen: Das Wichtigste sind Begegnungen. Wenn wir konkreten Menschen begegnen, werden wir merken: Das sind genauso wertvolle Menschen wie wir – mit Licht- und Schattenseiten. Sie sehnen sich nach Leben.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

Im ökumenischen Dialog gibt es zurzeit zwei Pole: Das «Team Diplomatie», das die Nähe zum Moskauer Patriarchat sucht. Und das «Team Konfrontation», das Patriarch Kyrill wegen seiner Verbindungen zu Putin scharf kritisiert. Warum gehören Sie zum «Team Konfrontation»?

Werlen: Wenn einer den Krieg hätte stoppen können, dann ist es Patriarch Kyrill. So viele Soldaten und so viele Menschen in der russischen Gesellschaft gehören der russisch-orthodoxen Kirche an. Wenn Patriarch Kyrill Putins Krieg verurteilen würde, wäre Putin bald entwaffnet. Doch Kyrill hat sich von Putin kaufen lassen.

Auch der Heilige Stuhl gibt sich diplomatisch, um Gesprächskanäle offen zu halten.

Werlen: Diplomatie hat einen grossen Wert. Aber es gibt Momente, in denen die Diplomatie ein Ende hat. Die Nummer zwei der orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion, windet sich nicht überzeugend. Er distanziert sich nicht vom Patriarchen, der in den Predigten den Krieg mit antiwestlichen Parolen theologisch zu legimitieren sucht. Damit verlieren beide jede Glaubwürdigkeit. Das ist keine Grundlage, um seriös zusammenzuarbeiten. Jetzt sind klare und starke Zeichen wichtiger.

«Kardinal Kurt Kochs Stimme würde in Moskau nicht überhört.»

Was sind starke Zeichen?

Werlen: Papst Franziskus hat zwei Kardinäle in die Ukraine geschickt. Das ist ein starkes Zeichen. Ein noch stärkeres Zeichen wäre es aber, wenn er seinen Ökumene-Minister Kurt Koch in die Ukraine schicken würde. Alle religiösen Führer in der Ukraine haben an Patriarch Kyrill appelliert. Zusammen mit ihnen könnte er die Stimme erheben. Diese Stimme würde in Moskau nicht überhört. Kardinal Kurt Koch ist mit Metropolit Hilarion befreundet.

Präsident Selenskij möchte, dass Papst Franziskus in die Ukraine kommt.

Werlen: Das wäre das stärkste Zeichen überhaupt. Ich kann allerdings nicht beurteilen, wie sich das auf den Kriegsverlauf auswirken würde – es könnte Putin und Kyrill vielleicht auch als westliche Übernahme provozieren. Diktatoren, die ihre Felle davonschwimmen sehen, sind unberechenbar.

«Der synodale Prozess ist auf einem guten Weg.»

Sie träumen schon länger von einer synodalen Kirche. Kommt die jetzt mit Papst Franziskus?

Werlen: Ja, die kommt. Wir dürfen den synodalen Prozess nicht an der Geschwindigkeit messen – das wäre zum Verzweifeln. Ich habe schon vor zehn Jahren dazu aufgerufen, miteinander die Glut unter der Asche zu entdecken – und synodale Prozesse der Kirche wiederzuentdecken. Wie dankbar ich bin, dass wir seit 2013 einen Papst haben, der diesen zutiefst kirchlichen Weg wagt! Früher gab es aus Rom Denk-Verbote und Diskussions-Verbote. Jetzt können wir eigentlich in allem Miteinander Gottes Willen suchen. Der synodale Prozess ist auf einem guten Weg.

Synodaler Prozess: Papst Franziskus will zuhören.
Synodaler Prozess: Papst Franziskus will zuhören.

Wie sieht Ihre Vision einer synodalen Kirche aus?

Werlen: Miteinander in der Gegenwart Gottes auf dem Weg sein. Wir bekommen von Gott jeden Tag so viele Bälle zugespielt – und können unmöglich alle auffangen und zurückspielen. Die meisten übersehen wir sogar. Deswegen brauchen wir ein synodales Teamplay.

Was heisst das mit Blick auf die heissen Eisen wie Pflichtzölibat, Frauenpriestertum, Klerikalismus, LGBTQ?

Werlen: Miteinander das Grundlegende der Taufe entdecken. Dann bekommt anderes, das wir bisher ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gestellt haben, die Bedeutung, die es hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es kann nicht mehr als Machtinstrument missbraucht werden.

Deutsche Bischöfe machen vorwärts und ändern Vorschriften über das kirchliche Partikularrecht. Die Schweizer Bischöfe warten ab. Warum?

Werlen: Ich lebe in Österreich und weiss nicht, wie die Schweizer Bischofskonferenz jetzt gerade tickt. Als ich noch in der Bischofskonferenz war, haben wir manchmal drei Tage mit Fragen verbracht, die für die Menschen kaum relevant waren. Wie oft habe ich mir gewünscht, von der Bischofskonferenz würden mehr Kreativität und mehr Impulse kommen.

«Man kann nicht beklagen, dass die Kirche nicht mehr gehört wird – und sich gleichzeitig abschotten.»

Egal ob Impflicht oder Benedikts Versagen im Missbrauchsskandal: Sie äussern sich zu Themen, zu denen Ihre Mitbrüder in der Bischofskonferenz sich oft nicht äussern. Warum ist das so?

Werlen: Weil ich keinen Führerschein habe und vielleicht mehr Freiräume (lacht). Beide Vorteile wünsche ich allen. Ich versuche auf die Fragen zu antworten, die mir gestellt werden. Man kann nicht beklagen, dass die Kirche nicht mehr gehört wird – und sich gleichzeitig abschotten. Als ich in der Bischofskonferenz war, gab es oft Anfragen vom Fernsehen – und niemand wollte hingehen. Ich bin überzeugt: Die Kirche hat was zu sagen. Nur sie muss es auch sagen wollen.

«Uscire», «Hinausgehen» – sollte das ein Motto für die Schweizer Bischofskonferenz werden?

Werlen: Zum synodalen Prozess gehört, das Gespräch zu suchen. Und zwar nicht nur mit denen, die der gleichen Meinung sind. Sondern auch mit denen, die sich von der Kirche verabschiedet haben.

Teilnehmerinnen an der Tagung "Synodalität – Solidarität – Partizipation: Zu Stilfragen des Kircheseins" an der Paulusakademie am 3. November 2021.
Teilnehmerinnen an der Tagung "Synodalität – Solidarität – Partizipation: Zu Stilfragen des Kircheseins" an der Paulusakademie am 3. November 2021.

Wie politisch soll Kirche sein?

Werlen: Glaube ist Leben. Wenn Jesus von sich sagt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben», dann kann ich das Christsein nicht nur am Sonntagmorgen in der Kirche leben. Es geht um das Leben der Menschen, das ja nicht von Glaubenssätzen geprägt ist, sondern von den Herausforderungen des Alltags.

Was wünschen Sie sich zum 60. Geburtstag?

Werlen: Ich wünsche mir nichts. Aber die Propstei St. Gerold braucht dringend Spenden. Wir sanieren zurzeit das Haupthaus, das über 1000 Jahre Baugeschichte hinter sich hat. Es soll auch in Zukunft wieder Teil einer Oase sein, wo Menschen aufatmen können. Das ist lebensrelevant.

* Heute vor 60 Jahren wurde Stefan Werlen im Wallis geboren. Er trat 1983 ins Benediktinerkloster Einsiedeln ein, bekam dort den Namen Martin und stand von 2001 bis 2013 dem Kloster Einsiedeln und dem Kloster Fahr als Abt vor. Seit 2020 ist er Verantwortlicher für die Propstei St. Gerold in Vorarlberg, die zum Kloster Einsiedeln gehört.


Pater Martin Werlen | © Franz Kälin
28. März 2022 | 11:11
Lesezeit: ca. 6 Min.
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