Jacqueline Keune

Gedanken zum Sonntag: «Der Zeitverlust beträgt…»

 Zum ersten Adventssonntag, 3. Dezember 2017

«Der Zeitverlust beträgt…»

Jacqueline Keune*

Der jüdische Schriftsteller Manès Sperber (1905-1984), der aus einem galizischen Schtetl stammte und zwei Kriege erlebt hatte, beschreibt irgendwo, wie er mehrmals auf das Dach der Scheune gestiegen ist. Und wie er von dort oben mit voller Wucht Steine gegen den Himmel geschleudert hat. «Ich hoffte, dass ihn einer meiner Steine treffen würde. Verstimmt würde Gott dann eine Klappe öffnen und böse auf mich herabblicken. Ich aber war entschlossen, ihm standzuhalten, ja, ihm Vorwürfe zu machen, weil er noch immer den Messias zurückhielt!»

Im Radio höre ich, dass der Stau zwischen Quinto und Airolo sieben Kilometer und der Zeitverlust rund eine Stunde beträgt. Jedes einzelne Mal, wenn ich dieses Wort höre, diese durch und durch kapitalistische Sichtweise von Warten, widerspreche ich innerlich – Warten als Zeitverlust! Gäbe es nicht mindestens ebenso viel Grund zu sagen: Der Zeitgewinn beträgt rund eine Stunde?

Wie ganz unterschiedlich doch gewartet werden kann. Und sicher wartet auch die Frau aus dem kurdischen Dorf anders als jene in Mailand.

Warten ist Ärgernis, ist Zumutung, ist grösste Ohnmacht. Warten ist sich die Zukunft in die Gegenwart hineinwünschen. Herumstehen ist ein Verrinnenlassen von Zeit, vielleicht gar ein Erdulden von Zeit, aber nicht Warten. Warten ist nicht Abwarten und ist nicht Nichtstun, sondern etwa Steine gegen einen stummen Himmel schleudern. Warten hat ein Ziel.

Wer nicht warten kann und immer nur auf die sofortige Befriedigung seiner Bedürfnisse aus ist, weiss nicht wirklich, was Sehnsucht ist. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seiner Predigt zum 1. Advent 1928 – durchaus auch gefährlich: «Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heisst des Entbehrens in Hoffnung kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.»

Ich mag Menschen, die warten können, die es wagen, zu warten. Menschen, die Geduld haben, die zur Ruhe fähig sind und spüren, dass Dienst am Leben auch bedeutet, zu warten und sich der Ungewissheit anzuvertrauen. Menschen, die durch alles hindurch daran festhalten, dass es in diesem Leben ein Mehr, ein Anderes, ein Besseres geben muss. Ich rede nicht etwa von Däumchen drehenden untätigen Menschen, sondern von solchen, die das Menschenmögliche tun und zugleich immer ihre ganze Hoffnung auf den Himmel und diesen nackten, unbewehrten Messias in einem Futtertrog setzen.

* Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

Jacqueline Keune | © zVg
2. Dezember 2017 | 09:22
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