Christus hat uns zu Priestern gemacht

Dieter Bauer zu Offb. 1,5b-8

Auf den Text zu

Es gibt kaum einen anderen neutestamentlichen Text, bei dem die Kenntnis der biblischen Überlieferungen des so genannten Alten Testaments so wichtig wäre wie bei der Offenbarung des Johannes. Der Autor dieses Buches lebt ganz in der Welt dieser Überlieferungen und deutet sie neu für seine Zeit und Geschichte.
Seine Zeit war eine furchtbare Zeit. In der römischen Provinz Asia, der heutigen Westtürkei, waren schmeichlerische Bestrebungen der Beamten zugange, dem römischen Kaiser Domitian (81­96 n. Chr.) göttliche Ehren zu erweisen: durch den Bau von Kaisertempeln und die Verpflichtung der Bürger zum Kaiseropfer. Für viele in den jungen christlichen Gemeinden war damit der status confessionis gegeben: Sie verweigerten das Kaiseropfer und wurden als illoyale Bürger mit Gefängnis, Verbannung oder Tod bestraft. Kaiser Domitian wurde von ihnen wie ein «neuer Nero» empfunden.
In dieser Zeit der Bedrängnis bekommen die alten biblischen Überlieferungen eine besondere Aktualität. In einer Relecture, einem erneuten Lesen unter den veränderten Bedingungen, werden die alten Schätze neu gehoben.

Mit dem Text unterwegs

Was für uns heute sehr fremd klingt: «Christus hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut» (Offb 1,5), rief bei den damaligen Hörerinnen und Hörern Assoziationen an eine wohl bekannte Geschichte hervor: die Exoduserzählung. Während wir heute «Erlösung von unseren Sünden» überwiegend moralisch verstehen, lag der Schwerpunkt der Exodusgeschichte (und der Johannesoffenbarung) auf der Erlösung aus einer sündhaften Verstrickung (Ägypten bzw. römischer Kaiserkult). Ihr Glaube an Jesus Christus gab ihnen die Kraft, sich aus diesen Verstrickungen zu lösen. Und das war eine blutige Angelegenheit: Im pharaonischen Ägypten ging es bis aufs Blut der Erstgeborenen, und Rettung gab es durch das Blut der Lämmer ­ im römischen Kleinasien mussten die Christinnen und Christen, die Widerstand leisteten, ihren Blutzoll entrichten. Der Gott auf dem Pharaonenthron und der göttliche Kaiser in Rom unterschieden sich nicht allzu sehr voneinander.
Doch ­ so der Seher Johannes ­ der christliche Gott ist immer noch derselbe «Ich bin da für Euch», der sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten geführt hat und der auch nach seinen verfolgten Gemeinden in der Provinz Asia schaut (vgl. die Briefe an die Gemeinden in Offb 2­3). Den Weg zur Erlösung deutet Johannes wie den «Marsch durch die Wüste». Er ist hart und schwer, aber notwendig, denn: So wie Israel in der Wüste seinen Gott am Gottesberg gefunden hat, so haben auch die momentanen Leiden des christlichen Gottesvolkes einen tieferen Sinn: Gott zu finden. Das ist natürlich eine sehr gewagte Theologie, aber Johannes ist da ganz konsequent. Er zitiert den «Adlerspruch» vom Berg Sinai, die Worte, die Gott nach den Überlieferungen sprach, bevor er Mose die zehn Wegweisungen in die Freiheit übergab: «Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören» (Ex 19,4­6). Im Bild des Adlers, der seine Kinder dadurch fliegen lehrt, dass er sie zwar ­ notwendigerweise ­ aus dem Nest schubst, dann aber ­ und das ist die Pointe ­ auffängt und auf seinen Flügeln zurückträgt, wenn es nicht gleich klappt, offenbart sich der «Ich bin da für Euch». Wie wichtig ihm seine Kinder sind, sieht man daran, dass er von ihnen als einem «Reich von Priestern und einem heiligen Volk» spricht. Die jungen christlichen Gemeinden machen ihre ersten «Flugversuche» wie die Hebräer, die ihre ersten Versuche mit der neu gewonnenen Freiheit gemacht haben. Das ist hart und mühsam und begleitet von Minderwertigkeitsgefühlen. Dem gegenüber wird die königliche und priesterliche Würde aller Gläubigen gestellt ­ etwas, von dem in unserer Kirche leider nicht allzu oft zu hören ist.

Die zweite alttestamentliche Überlieferung, die Johannes zitiert, stammt aus dem Buch Daniel. In ähnlicher Bedrängnis wie jetzt die christlichen Gemeinden unter dem römischen Kaiser, lebten fromme Juden im 2. Jahrhundert v. Chr. unter der griechischen Oberherrschaft. Eine brutale Fremdherrschaft hatte seit Jahrhunderten die andere abgelöst, und immer war es nur noch schlimmer geworden. Wie die «wilden Tiere» hatten sie sich auf das arme Palästina gestürzt (Dan 7,3­8). Das unterdrückte Gottesvolk konnte sich nur noch etwas erhoffen von einem direkten Eingriff Gottes. Diesen Traum formulierten die Seher des Buches Daniel im Bild eines, der von Gott («mit den Wolken») kommen wird «wie ein Mensch(ensohn)» und nicht wie die Tiere. Er wird der Gottesherrschaft zum Durchbruch verhelfen, so hofften die Danielleute (Dan 7,13f.). Ihre Hoffnung hat sich ­ historisch gesehen ­ nicht erfüllt. Doch die Verheissungen standen weiterhin geschrieben. Und als die Menschen mit Jesus von Nazaret die Erfahrung der anbrechenden Gottesherrschaft gemacht hatten, war für sie klar, dass er der «Menschensohn» sei. Doch wieder dauerte es nicht lange, da war aus der Freude über den gekommenen Menschensohn die Hoffnung auf den «wieder Kommenden» geworden: «Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben». Er sollte dem Terror-Regime der kaiserlichen Beamten und ihren Christenverfolgungen ein Ende setzen: «und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen. Ja, amen» (Offb 1,7).

Über den Text hinaus

Zum wirklich Ärgerlichen an diesen biblischen Überlieferungen gehört, dass sie irgendwie nicht für uns geschrieben zu sein scheinen. Wer keine Erlösungsbedürftigkeit verspürt, wer nicht an dieser Welt, wie sie ist, leidet, der verspricht sich auch nichts von einer Veränderung. Ein Umsturz der Verhältnisse, wie ihn der «mit den Wolken kommende Mensch(ensohn)» herbeiführen soll, löst bei uns eher Angst aus. Nicht so in den Ländern der von uns so nummerierten «dritten Welt». In Afrika oder Lateinamerika werden die apokalyptischen Texte unmittelbar verstanden. Da wird ein Gott gefeiert, der sich der an den Rand Gedrängten annimmt, der Gericht halten und die unterdrückerischen Systeme entmachten wird. Diese Menschen lesen die biblischen Texte im Bewusstsein ihrer königlichen und priesterlichen Würde, die sie sich nicht absprechen lassen. Und wir? Wir haben unsere Menschenwürde an die «Könige» und «Priester» unserer Zeit delegiert und erhoffen unser Heil von ihnen. Stimmts nicht?

Der Autor: Dieter Bauer leitet die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.

Literatur: Heinz Giesen, Johannes-Apokalypse, (Stuttgarter Kleiner Kommentar, NT 18), Stuttgart 1986; Pablo Richard, Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kommentar, Luzern 1996; Luzia Sutter Rehmann, Vom Mut, genau hinzusehen. Feministisch-theologische Interpretationen zur Apokalyptik, Luzern 1998.


Er-lesen
Sich gegenseitig die Exodusgeschichte aus der Erinnerung erzählen bis zur Ankunft am Sinai, dann Ex 19,4­6 miteinander lesen. Gespräch darüber, was «ein Reich von Priestern» bzw. «ein heiliges Volk» für die Hebräer in dieser Situation wohl bedeutete.

Er-hellen
Kurze Information über die Situation der Gemeinden der Offb (s.o.). Lesen des Textes Offb 1,5­8. Was bedeutete «er hat uns zu Königen und zu Priestern gemacht» wohl für die bedrängten Gemeinden?

Er-leben
Auf zwei Plakaten stehen die Worte «König» und «Priester». Nach einer Schreibmeditation, in der jede/jeder ihre/seine Assoziationen aufs Plakat schreibt, Gespräch darüber, was das «Königliche» und das «Priesterliche» eines jeden Gläubigen sein könnte. Wie könnte das in der eigenen Gemeinde stärker zum Tragen kommen?

BPA und SKZ
16. November 2003 | 00:00